Rudolstadt-Festival 2017 1 2 3 4
Sonnabend, 08.07.2017 Von Highlands bis High Heels
Die Schotten-Show beim Rudolstadt-Festival 2017 fing am Sonnabend (für uns) folktraditionell mit Breabach (breabach.com | Breabach @ Facebook | Breabach @ Youtube) aus Glasgow an. Die 5 Musiker sind alle irgendwie Absolventen der Royal Scottish Academy of Music and Drama in Glasgow (jetzt Royal Conservatoire of Scotland) oder der Strathclyde University (die ist nur 15 Gehminuten entfernt): Megan Henderson (aus Fort William, wo die Highlands am highsten sind, beim Ben Nevis) spielt Geige, Akkordeon, Klavier, singt und steptanzt, Ewan Robertson (aus Carrbridge in Nordschottland) spielt inzwischen lieber Gitarre (hat Dudelsack und Geige gelernt), James Duncan Mackenzie (aus Back auf der Isle Of Lewis, ziemlich außen auf den Äußeren Hebriden) studiert Flöte und Dudelsack, Calum MacCrimmon (kommt ursprünglich aus Edmonton/Kanada, lebt aber in Glasgow) spielt auch Dudelsack und James Lindsay (aus Nordostschottland) ist von der früheren Punk-Bassgitarre an den Folk-Kontrabass gewechselt. Schon seit der Gründung der Band 2005 haben sie Wettbewerbspreise gewonnen, 2012, 2016 und 2017 Scots Trad Music Awards. Also musiktechnisch haben die schon was drauf. Aber irgendwie fand ich’s auch ein bisschen berechenbar langweilig. Etwas mehr Esprit und Improvisation wären gut gewesen…
Dass der Seperewa-Spieler Osei Korankye aus Ghana nicht zum Rudolstadt-Festival 2017 kam, fand ich schade, denn westafrikanische Kora-Musik interessiert mich immer. Dafür sprang der Singer-Songwrighter-Gitarrist Tcheka (tchekamusic.com | Tcheka @ Facebook | Tcheka @ Youtube) in die musikalische Bresche, eigentlich Manuel Lopes Andrade aus dem Dorf Ribeira da Barca auf der kapverdischen Insel Santiago. Tcheka sang eigene meist sanft-schmusige afrobrasilianisch-kapverdische Batuque-Folk-Jazz-Pop-Balladen. Er spielte flinkfingrig-souverän auf seiner Akustikgitarre und bot obendrein noch ein eindrucksvolles schauspielerisches Minenspiel. Bei diesem kapverdischen Sunnyboy schmolzen die Mädchen zwischen 10 und 60 reihenweise dahin. Mir war die Musik zwar zu lyrisch-verspielt aber eine sehenswerte, sympathische Show war es auf jeden Fall.
Auch mit schauspielerischen Ambitionen, aber radikal anders zeigten sich die Humanophones (www.humanophones.com | Humanophones @ Facebook | Humanophones @ Youtube) aus Toulouse/Südfrankreich mit dem Programm „Corpus“, ein A-Capella-Projekt von 5 Musikern: Rémi Leclerc (Bandgründer), Joris Le Dantec, Frédérika Alésina, Quelen Lamouroux & WAB (Habib Julien), die meist am Konservatorium Toulouse ausgebildet wurden. Humanophone bedeutet, dass die Musiker ihre Körper als Musikinstrumente benutzen: Gesang, Bodypercussion, Beatboxing, Pfeifen, Ploppen, Klatschen, Schnipsen, Schnalzen, Steppen. Zu der Soul-Funk-Jazz-Weltmusik gabs noch Tanzimprovisation und Schauspieleinlagen – eine faszinierende, energetische, mal verstörende, mal eingängige, mal ironische, sehens- und hörenswerte Avantgarde-Impro-Schauspiel-Zirkus-Operetten-Tanz-Musik-Performance.
Unser nächstes Ziel im Heinepark gegenüber auf der Konzertbühne war das Krar Collective (www.krarcollective.com | Krar Collective @ Facebook | Krar Collective @ Youtube). Das waren drei äthiopische Musiker aus Addis Abeba, die sich im Londoner Exil aus der äthiopischen Kulturorganisation GEAT (Genna Ethiopian Arts & Theatre) heraus 2010 zur Gruppe zusammengefunden haben: die Sängerin Genet Asefa, der Krar-Spieler Temesegen Zeleke und Kebro-Trommler Grum Begashaw. Die Krar ist eine traditionelle äthiopische Lyra, die es schon seit 4000 Jahren geben soll. Temesgen Zeleke spielt sie elektrisch verstärkt, virtuos, gern auch mal etwas rockiger wie eine Bluesgitarre. Die Sängerin Genet Asefa kann sicher gut und emotional singen, hat aber irgendwie nicht das Format (eher ein bisschen Übergröße), das ich bei äthiopischer Musik erwartet hatte (wenn man unweigerlich an Gigi Shibabaw mit ihrem legendären Album Abyssinia Infinite „Zion Roots“ denken muss). Die (etwa) 80-ethnien-reiche traditionelle äthiopische Musik ist ziemlich facettenreich, oft magisch-hypnotisierend und eigentlich immer mit Tanz verbunden. Das Krar Collective stellte einige dieser bekannten ethnischen, stilistisch festgelegten Tanz-Musikstücke vor (die z.B. auch zu religiösen Prozessionen gehören). Genet Asefa präsentierte selbst einige Tanzeinlagen, aber für die ziemlich anspruchsvollen, speziellen Tänze gab es auch spezialisierte Tänzerinnen. Der bekannte Eskesta („tanzende Schultern“) der Amhara Nordäthiopiens erfordert bestimmte ritualisierte Oberkörperbewegungen: Schulterrollen, Oberkörper-Wellen, Brustschnippen, Kopfwackeln (der schon 3000 Jahre alte Tanz entstand vermutlich durch das Tabu „obzöner“ Unterleibsbewegungen durch die christlich-koptisch-orthodoxe Religion). Beim Tanz der Wolaita (Südäthiopien) kommt es dagegen gerade auf gelungenes Hüftwackeln an. Am eindrucksvollsten präsentierte sich der Oromo (des Oromia-Volkes in Zentraläthiopien): während der Tänzer seine Kunstpelz-Löwenmähne ein bisschen schüttelte, vollführten die Frauen extreme Kopfschleuder-Phasen, dass einem Hören und Sehen vergehen würde… Das war zwar interessant, erstaunlich und engagiert vorgetragen, kam mir aber insgesamt zu bieder-folkloristisch vor.
Mein Rudolstadt-Festival-2017-Highlight kam ganz unerwartet statt des nicht angereisten algerischen El Gusto Orchestras: La Dame Blanche/La Dama de Blanco (www.boaviagemmusic.com/… | La Dame Blanche @ Facebook | La Dame Blanche @ Youtube), eine kubanische Flötenrapperin aus Paris in leichtgeschürzter Vamp-Verkleidung auf High-Heels. Die dunkelweiße Dame heißt eigentlich Yaïté Ramos Rodriguez, stammt aus Pinar Del Rio in Westkuba und ist die Tochter des berühmten kubanischen Posaunisten Jesús „Aguaje“ Ramos (musikalischer Leiter des Buena Vista Social Clubs). Sie hat klassische Flöte, Percussion und Gesang am Musikkonservatorium Escuela Nacional de Arte de Cuba in Havanna gelernt. Weil sie aber scheinbar ganz andere als klassische Musikinteressen hatte, ging sie nach ihrem Abschluss mit 15 mit der kubanischen Frauenband Sabor á Miel (Honiggeschmack) auf Tournee und zog mit 19 nach Paris. In der Pariser Latinoszene Fuß/Stimme zu fassen ist vielleicht gar nicht so einfach: sie sang bei Alfredo Rodriguez, in der Girl-Salsa-Band Rumbanana, Paris Salsa All Stars, Solside, Mambi, Sabor a son, Grand Orchestre du Splendid, wurde Background-Sängerin bei den Latino-Punk-Ragga-Rappern Sergent Garcia und Live-Sängerin für El Hijo de la Cumbia, hatte Soloauftritte mit eigenen Songs als Yaite Ramos. Mit Hilfe von El Hijo de la Cumbia, dem argentinischen Cumbia-Dub-Fusioner Emiliano Gomez und dem französischen Electronic-Soundmixer und Musikproduzenten Marc „Babylotion“ Damblé hat sie sich 2013 als La Dame Blanche erfunden (die Sagenfigur der „weißen Frau“ als Gespenst in altehrwürdigen Schlössern gibts auch als französische Oper und hat vielleicht einiges mit ihrer Herkunft zu tun). Als Begleitband hatte sie Babylotion (Marc Damblé) am Mischpult und den Schlagzeuger Pedro (Pierre Mangeard). Mit qualmender Zigarre und geschulterter Flöte als Markenzeichen, toller Stimme, instrumentaler Professionalität, afrokubanischer Musikalität, Temperament, Selbstbewußtsein, Fröhlichkeit und einer Prise kalkulierter Dreistigkeit servierte sie einen explosiv-tanzwütigen afrokaribischen Cumbia-Salsa-Reggae-Dub-Dance-Rap-Mix (der durchaus ernste, kritische Inhalte hat). Und sehenswert ist sie sowieso…
Nach diesem Auftritt wäre vielleicht ein bisschen gediegene Beruhigung nicht schlecht: vom Vortag wußten wir ja schon, dass man genau das bei Helgi Jónsson (www.helgijonsson.com | Helgi Jónsson @ Facebook | Helgi Jónsson @ Youtube) erwarten kann. Also sind wir zum Neumarkt, um sein Programm auch mal openair statt innerkirche zu erleben. Der isländische söngvaskáld Helgi Jónsson (Liedermacher war mir zu einfach, spielt auch noch Posaune, Klavier und Gitarre), seine dänische Gitarristin-Sängerin-Frau Tina Dico, die dänische Schlagzeugerin Marianne Lewandowski und der isländische Gitarrist Pétur Ben spielten wieder Stücke aus Helgis neuem Album Vængjatak („Flügelschlag/Flügel bekommen“), die sanft-lyrischen bis emotional-energetischen Songs waren gerade richtig für den Abend eines anstrengenden Festivaltags…