Rudolstadt-Festival 2017 1 2 3 4
Sonntag, 09.07.2017 Von Haus- und Powerfrauen und mittenmang machen manchmal Männer Musik
Der Sonntagvormittag fing mit Küchenarbeit an. Aber nicht für uns, sondern für die 3 polnischen Haus(musik)frauen des Warschauer Folktrios Sutari (www.sutari.pl | Sutari @ Facebook | Sutari @ Youtube) im Theater im Stadthaus. Der Name kommt von ihrer musikalischen Leibspeise, den Sutartinės, jahrhundertealter ostlitauischer polyphoner Satzgesang. Sie bezeichnen sich als „Küchenavantgardegruppe für drei Frauenstimmen und Alltagsinstrumente“, weil sie polnische und litauische Volkslieder neu arrangieren und manchmal mit ungewöhnlich-gewöhnlichen Küchengeräten spielen: mit Elektromixer, Küchenreibe, Salatschüssel, Frühstücksbrettchen und so was… Natürlich können die drei klassisch ausgebildeten Musikerinnen/Theaterspielerinnen auch anders: Barbara „Basia“ Songin ist Theaterschauspielerin, Musikerin, Regisseurin, Choreografin, Komponistin, Kulturaktivistin und hat die Band 2012 gegründet. Sie spielt u.a. Basetla (ein polnisch-ukrainisches Volksinstrument zwischen Cello und Kontrabass). Katarzyna „Kasia“ Kapela und Zofia „Zosia“ Barańska (inzwischen Zembrzuska) spielen Geige und Percussion. Aus der Jury-Begründung für den Folk Recording of the Year Award für ihr Album Wiano: „Dieses Trio vereint Poesie, Theater und Musikalität zu einem faszinierenden und unheimlich originellen Ganzen. Sie singen mit solcher Leichtigkeit, sie bewegen sich schnell umeinander, tauschen sich aus und treffen sich mit ihren Stimmen und schaffen eine solche Intimität und Verspieltheit, die ihre Virtuosität offenbaren. Berauschend und hypnotisch. Einfach genial.“ (ich häts nicht besser sagen können…)
Nachdem Sutari gegessen war, wollten wir eigentlich an die Saale zum Heinepark. Am Theaterplatz sind wir dann aber in den Soundwellen des Zusammenflusses von Neckar und Ganges baden gegangen. NeckarGanga (neckarganga.com | Neckar Ganga @ Facebook | Neckar Ganga @ Youtube) ist die Experimental-Raga-Jazz-Band von 3 Jazz-Musikern aus Mannheim (und Umgebung) + 3 indischen klassischen Musikern aus Varanasi. Die NeckarGanga-Geschichte begann mit der Trommelleidenschaft von Peter Hinz, einem deutschitalienischen Percussionisten aus Genua/Mannheim. Nach seinem Jazz-Pop-Musik-Studium an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Künste Mannheim suchte er einen Lehrer für Tabla in Indien und fand ihn: Keshav Rao Nayak, Tablameister am International Music Centre Ashram in Varanasi (der Kult- und Musikhauptstadt in Nordindien). 2014 gründete Peter Hinz mit Steffen Dix (Saxofonspieler/Jazzbrasser/Soundmixer aus Ulm/Mannheim, die auch sonst gemeinsame Musiksachen machen), dem Tablameister Keshav Rao Nayak, dessen Sohn Sandip Rao Kewale (auch Tablaspieler) und Shyam Rastogi (Sitar) in Varanasi die deutsch-indische Gruppe NeckarGanga. Dazu kam noch Jonathan Sell (2017 Jazz-Kontrabass-Absolvent der Musikhochschule Mannheim). Zusammen machen sie einen spannenden indogermanischen Worldmusic-Raga-Jazz. Jedes Jahr treffen sie sich einmal in Indien und einmal in Deutschland, arbeiten zusammen und geben Konzerte. 2016 brachten sie ihr Album „Innaad“ heraus, das auf Deutschland/Schweiz-Tour und in Varanasi vorgestellt wurde, so auch bei drei Auftritten beim Rudolstadt-Festival 2017…
Unser Nachmittags-Abend-Festivalprogramm sollte sich im Heinepark abspielen: Wenn irgendwas aus Westafrika kommt, bin ich grundsätzlich schon mal interessiert, so auch am Trio da Kali (triodakali-kronosquartet.com | Trio da Kali @ Facebook | Trio da Kali @ Youtube), eine Manding-Griot-Gruppe aus dem südlichen schwarzafrikanischen Mali. Da Kali bedeutet, ein Eid/Schwur/Versprechen und die Band schwört darauf, die jahrhundertealte traditionelle Musiktradition Malis fortzuführen. Griots sind die traditionellen, erblichen Wandermusiker-Familien, die die Geschichten einer Region erzählten, besangen und weitergaben. Da Kali ist ein Musikprojekt der Aga Khan Music Initiative (AKMI, eine weltweite Organisation zur Förderung traditioneller Musik), für die Dr. Lucy Duran (eine englische Musikspezialistin) drei hervorragende malische Griots zusammenbrachte: den musikalischen Leiter der Gruppe Fodé Lassana Diabaté, der seit seinem 5. Lebensjahr von seinem Vater Djelisory Diabaté Balafon spielen lernte (Balafon ist ein westafrikanisches Xylofon mit 22 Palisander-Klanghölzern unter denen Kalebassen als Resonanzkörper montiert sind). Mamadou Kouyaté spielt eine elektrisch verstärkte Bass-Ngoni (gitarrenartige Langhals-Spießlaute mit Holzkörper und Lederbespannung), lernte von seinem Vater Bassekou Kouyaté, dem bedeutendsten Ngoni-Spieler Malis (der das Volksinstrument überhaupt erst international bekannt machte) und ist auch noch in der nicht ganz so traditionellen Hip-Hop-Szene Bamakos aktiv. Die Sängerin des Trios Da Kali ist Awa Kassé Mady Diabaté. Ihr Vater Kassé Mady Diabaté (2018 gestorben) war der berühmteste Griot-Sänger in Mali. Sie sind Nachfahren der bedeutendsten jahrhundertealten Griot-Familie des alten Manding-Reiches, der Diabatés von Kéla. Und die Drei hattens wirklich drauf: während Fodé Lassana Diabaté souverän perlend seine zwei Balafone klöppelte und Mamadou Kouyaté cool (und fast immer lachend) den Bass-Kontrast-Hintergrund zupfte, modulierte darüber Awa Kassé Mady Diabaté ihren Gesang mit Eleganz und Präsenz zwischen dunklem und schneidenden Klang (ihre Stimme wird auch mit der berühmten Gospelsängerin Mahalia Jackson verglichen). Obwohl sie nicht unbedingt leichtfüßig ist, tanzte sie erstaunlich temperamentvoll über die Bühne, wobei man gleich noch die großartigen Seidenstoffe bewundern konnte. Insgesamt ein hochkarätiger, sympathischer Auftritt mit der hypnotischen Manding-Musik Malis…
Nachmittags waren wir mal bei den Kaffee’n’Kuchen-Bauernhäusern. Da spielte auf dem hinteren Hof gerade William Wormser (www.williamwormser.de | William Wormser @ Facebook | William Wormser @ Youtube), ein deutscher Liedermacher/Gitarrist/Straßen-/Clubmusiker ursprünglich aus Osnabrück/Heidelberg (jetzt Berlin). Der hatte in jugendlichem Drang mit der E-Gitarre alles von Blues-Rock über Jimi Hendrix bis Death-Metal ausprobiert, später Chansons, Swing und selbstgemachte Songs. Sein Album „Tier gewinnt“ sind nachdenklich-kritische-skurrile Texte, die er eigentlich ganz locker, geradlinig, bluesig, mit etwas rauer, ungekünstelter Stimme rüberbringt.
Ein Gegenentwurf zum schwarzafrikanischen Trio da Kali aus dem Süden Malis war Imarhan (www.imarhan.com | Imarhan @ Facebook | Imarhan @ Youtube), eine Tuareg-Desert-Blues-Rock-Band aus dem Exil in Südalgerien, denn die Kel Tamasheq („Leute, die Tamasheq sprechen“) sind im Saharagebiet Nordmalis beheimatet. Die 5 „besten Freunde“ (sowas ähnliches bedeutet Imarhan, oder auch: „die, die mir was bedeuten“) kennen sich schon aus der Schulzeit in Tamanrasset (einer Oasenstadt in Südalgerien). Sadam (eigentlich Iyad Moussa Ben Abderahmane), Gitarre & Gesang, der auch schon mit der bekannten Tuareg-Band Tinariwen unterwegs war, gründete 2006 die Band Imarhan. Mit dabei sind noch: Abdelkader Ourzig (E-Gitarre, Gesang), Tahar Khaldi (Bassgitarre, Gesang), Haiballah Akhamouk (Percussion, Djembe, Kalebasse, Gesang) und Hicham Bouhasse (Percussion, Djembe, Kalebasse, Gesang). Die 5 smarten Wüstensöhne (die beim weiblichen Publikum bestimmt gern gesehen waren) spielen den typischen gitarrenlastigen, hypnotischen Rock-Sound des modernen Tuareg-Sahara-Blues, in den auch Rai, Reggae, Funk, Dance und Trance einfließen. Während die Trommler den Rhythmus stetig antrieben, wirkte der Gesang (auf mich) irgendwie seltsam gleichförmig, emotionslos und ein bisschen langweilig (aber sicher ist das einfach der traditionelle „wüste“ Gesangsstil). Obwohl ihre Songs auch zeitkritischen Texte haben sollen über den Krieg in Nordmali (ihrer ethnischen Heimat), das Leben im Exil in Algerien, die Sehnsucht nach Freiheit (hab ich gelesen). Für das begeisterte Tanzvolk, das einen kleinen Tanzsandsturm aus dem trockenen Heineparkboden stampfte, war das unerheblich.
Ziemlich wichtig waren bestimmt auch die Texte von Ani DiFranco (anidifranco.com | Ani DiFranco @ Facebook | Ani DiFranco @ Youtube), der kleinen USAmerikanischen Powerfrau und ihrer Band aus New Orleans. Ani DiFranco heißt eigentlich Angela Marie und kommt aus Buffalo (am Eriesee). Klein-Ani scheint schon immer mit Gitarrensucht, starkem Willen, Selbstbewußtsein und Unabhängigkeitsdrang ausgestattet gewesen zu sein: mit 9 spielte sie Beatles-Songs in Bars, mit 16 schloss sie ihr Musikstudium ab und zog zu Hause aus, mit 18 gründete sie ihr eigenes Musiklabel Righteous Babe Records (um unabhängig ihre eigene Musik veröffentlichen zu können), mit 19 zog sie nach New York, mit 20 veröffentlichte sie ihr erstes Album. Außerdem besuchte sie eine Kreativ-Schreib-Schule und schreibt seit dem auch Texte und Gedichte (sie hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht). In den Clubs von Brooklyn kamen ihre Anti-Folk (gegen die etablierte Mainstream-Folk-Musik, vielleicht so was, wie bei uns MDR-Volksmusik-Sendungen) genannten Folk-Punk-Rock-Songs ganz gut an. Ihre Botschaften waren direkte persönliche und politische Statements: gegen Diskriminierung von Frauen und Rassen, Machogesellschaft, Sexismus, Waffenlobby, Armut und Benachteiligung, für Recht auf Selbstbestimmung, Recht auf Abtreibung, eigene Bisexualität… Ihre Lebensmaximen von Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit, Selbstverwirklichung, Wahrheitssuche, Widerstand, Solidarität und Engagement schlagen sich auch direkt in ihrer Musik nieder. Unter ihrem eigenen Musiklabel konnte sie singen und veröffentlichen, was sie für Richtig hielt und wurde zur Ikone emanzipierter Frauen-Musik-Power. Inzwischen hat sie 20 eigene Alben herausgebracht und ihr Label für gleichgesinnte Musiker zur Verfügung gestellt. Seit Mitte der 1990er Jahre machte Ani DiFranco Touren in Nordamerika und weltweit, um ihre Musik und Meinung bekannt zu machen. Nach ihrem Engagement gegen Trump im US-Präsidenten-Wahljahr 2016 mit Touren im eigenen Land kam sie 2017 wieder auf Tour nach Europa, nach England und zum einzigen Auftritt in Deutschland beim Rudolstadt-Festival, um ihr neues Album „Bi-na-ry“ vorzustellen. Zur ihrer Tour-Band gehören: Todd Sickafoose, ein Avantgarde-Jazz-Musiker am Kontrabass aus San Francisco/New York. Terence Higgins (nennt sich auch New Orleans Monster Drummer) spielt als Schlagzeuger außer bei Ani DiFranco auch solo und bei vielen anderen Projekten (The Dirty Dozen Brass Band, Michelle Shocked, Nora Jones, The Black Crows…) 2016/17 wurde die 2-Mann-Standard-Rhythmusgruppe durch Gastmusiker ergänzt: Chastity Brown ist eine junge Soul-Singer-Songwrighterin aus Union City (Tennessee) und ihr noch jüngerer Gitarrist Luke Enyeart, ein flinkfingrigen Newcomer aus Nashville (Tennessee). Eines der Markenzeichen von Ani DiFranco sind die abgeklebten Finger der Spielhand, um bei ihrem furiosen Gitarrenspiel die Fingerspitzen etwas zu schonen. Dafür bekommen die Gitarren ganz schön was ab und müssen immer mal wieder ausgewechselt und aufgepäppelt werden. Ani DiFranco war total nett, natürlich und absolut uneitel in ihrem Auftritt. Mein persönlicher Eindruck: eine tolle, sympathische Musikerin mit jeder Menge Bühnenpräsenz, aber ihre Songs leben vor allem von der Botschaft und weniger von den musikalischen Ideen…
Am Ende (für uns) kam noch was Schottisches: die Nachtarbeiter von Niteworks (schottisch-gälisch: Obair Oidhche) (niteworksband.com | Niteworks @ Facebook | Niteworks @ Youtube). Das ist eine schottische 4-Schulfreunde-Band von der Isle of Skye (alle haben auch noch gälische Namen, wußte gar nicht, das die sich so unterscheiden): Innes Strachan/Aonghas Strachan (Synthesizer, Keyboard), Allan MacDonald/Ailean Dòmhnallach (Dudelsack, Keyboard), Christopher Nicolson/Crìsdean MacNeacail (Bassgitarre) & Andrew MacPherson/Anndra Mac a’Phearsain (Percussion). Sie spielen Gaelic-Electronic-Fusion, traditionelle schottische Musik mit gälischen Texten im Dudelsack+Drums+Electronic-Sound: Pipes’n’tronic. Außerdem hatten sie noch eine Gastsängerin dabei: Ellen MacDonald/Ellen Nic Dhòmhnaill aus Inverness, die aber auch die Sabhal Mòr Ostaig („Große Scheune von Ostaig“): Hochschule für schottisch-gälische Sprache, Kultur, Kunst und traditionelle Musik auf der Isle Of Skye absolviert hat. Obwohl sie bestimmt gut singen kann (als Gaelic Singer Of The Year 2016 ausgezeichnet, singt auch noch bei Dàimh, Sian und solo, aber mehr traditionellen Folk), fand ich ihren Auftritt im elektrischen Feld des Electronic-Sounds ziemlich energiearm, irgendwie blass und sehr artig. Vom Ansatz her fand ich Electronic-Schotten-Rock ja gut, den Auftritt von Niteworks beim Rudolstadt-Festival 2017 aber irgendwie „schaumgebremst“, vielleicht wars um halb 8 auch noch zu früh für Nachtarbeiter… Aber vielleicht lags auch daran, dass wir nach 4 heißen Festivaltagen nicht mehr ganz so frisch waren und mehr an Bad & Bett als an Beats dachten.