Rudolstadt Festival 2019 1 2 3 4
07.07.2019 Kosaken, Koreaner, Krieger/innen
Kirchen-Kosaken: Kazachya Sprava
An diesem Festival-Sonntag hatten wir gar keinen Plan, wo wir eigentlich hingehen wollten. Also beschlossen wir, wieder mal was ganz Verrücktes zu machen und es in der Stadtkirche zu versuchen. Und – keine Lüge – wir sind sogar reingekommen (was schon seit Jahren kaum noch ohne stundenlanges Anstehen möglich war). Gut, der Wolga-Kosakenchor Kazachya Sprava (www.facebook.com/…) wäre sonst auch nicht unsere allererste Konzertwahl gewesen, aber wir waren eigentlich froh, etwas für uns Ungewöhnliches, Spannendes gefunden zu haben. Noch ein paar Gedanken zum Namen: im Programmheft steht Sprava (Справа) hat irgendwie unbestimmte Bedeutung als Kleidung, Uniform oder auch Auftrag – in unserem Russisch-Unterricht hieß cправа rechts, bestenfalls richtig – ich würde es mal frei übersetzen mit: Die richtigen Kosaken (hoffe ich). Die Gruppenmitglieder Olga Bykova, Pavel Bykov (Chorleiter), Nadezhda und Sergei Kazaku (musikalischer Leiter), Anastasiia Shpakova und Sergei Erpylev sind Kosaken aus Wolgograd und haben die Gruppe 2016 gegründet, um die originale Kosakenmusik und Traditionen zu bewahren und an die Jugend weiter zu vermitteln. Sie spielen traditionelle, kirchliche, Alltags-, Helden- oder Hochzeitslieder im a-capella-Satzgesang oder mit sparsamer Instrumentenbegleitung (Drehleier, Akkordeon, Balaleika und Tamburin). Mit den unterschiedlichen parallelen Stimmen und Melodieführungen ist das eine ziemlich anspruchsvolle Leistung. Irgendwie wie im russischen Märchen… Jedenfalls hab ich vorher nicht gedacht, dass nur 6 Sänger einen solchen vielstimmigen Choreindruck aufbauen können. Diese Multi-Stimmen-Rhythmik ist schon sehr beeindruckend und unvergleichlich – und kam in der Kirche besonders gut zur Geltung.
Yegor Zabelov, ein Akkordeonverrückter?
Irgendwie schon, glaub ich – da erinnert er ganz an den Finnen Kimmo Pohjonen, aber ohne dessen Showgeinlagen. Yegor Zabelov (yegorzabelov.com) aus Minsk/Weißrussland lernte mit 7 Jahren bei seinem Vater das Akkordeonspiel, war an der Musikhochschule und der Staatlichen Musikakademie Weißrusslands, hat Preise bei Volksmusik-Wettbewerben gewonnen. Abseits der Volksmusik interessierte er sich immer mehr für alternative Rockmusik, komponiert auch für Theater und Film. Als Yegor Zabelov Trio spielt er mit Bass- und Schlagzeugbegleitung (auch sehr spannend). Jedenfalls hat Yegor Zabelov ganz allein mit seinem Akkordeon die Burgterrasse gerockt. Der Jazzrocker fing zuerst ganz harmlos an, scheint ein bisschen an seinem Akkordeon zu nagen (sucht vielleicht erst mal eine Verbindung zu seinem Spiel) und steigert sich im Laufe seiner Musikstücke immer mehr rein bis zur Ekstase. Er spielt meisterhaft intensiv eine Art Alternativ-Bach-Jazz-Rock-Trance-Improvisation. Die Instrumentalstücke sind vielschichtig, magisch und mitnehmend (wer sich darauf einlässt). Er erschafft eher Gefühls-Klang-Welten als Musikstücke. Dabei hab ich erst mal bemerkt, dass das Akkordeon ein lebendiges „atmendes“ Instrument ist/sein kann.
Kirchen-Koreaner: 4Innori
Zwei Kirchen-Konzerte an einem Tag besuchten wir echt selten beim Rudolstadt Festival. Diesmal hat es sich ergeben, dass wir auch zu den 4 Klassik-Koreanern 4Innori (4innori.bandcamp.com) in die Stadtkirche reingekommen sind: weil einerseits noch Platz war und wir andererseits nichts Anderes vorhatten. Dass traditionelle koreanische Musik (für unsere Hörgewohnheiten) ziemlich ungewöhnlich und anstrengend sein könnte, war uns vorher klar. Aber wir waren auch neugierig, wie sich das so anhört. 4Innori sind 4 klassisch ausgebildete Musiker an traditionellen koreanischen Musikinstrumenten (ich zähl sie mal auf, wie sie v.l.n.r. vor uns saßen): Shin Hyunseok (Spießgeige Haegeum, Gong Jing, Gesang), Yoon Seogyung (Wölbbrett-Zither Ajaeng, Sanduhr-Trommel Janggu), Lee Jaeha (Schwarze Zither Geomungo, Percussion) und Lee Youngseop (Bambusflöte Daegeum, Holztröte Taepyungso). Sie spielen traditionelle Sinawi/Shinawi-Musik aus dem südlichen Südkorea, ein eigenständiger Stil improvisierter Musik zur Begleitung koreanischer schamanistischer Riten des (Volksreligion Sinismus/Shinismus). Mit traditionell festgelegtem Instrumentarium und Klangbildern experimentieren und improvisieren die 4 Meister. Dabei scheint es besonders auf Timing, Intensität und Kontrolle anzukommen, so dass ein Klangbild aneinander gereihter oder aufeinander bezogener Klänge mit an- oder abschwellender Intensität entsteht. Jedenfalls keine melodisch-rhythmische Musik nach unserer Hörgewohnheit, sondern harmonische oder kontrastierende Klangstrukturen. Mit ein bisschen Eingewöhnung und gutem Willen war’s ganz interessant…
3 Rap-Kriegerinnen aus Mittelamerika entern den Marktplatz: Somos Guerreras
Somos Guerreras (www.facebook.com/…) sind: Rebeca Lane (www.rebecalane.com | www.facebook.com/…) (eigentlich Rebeca Eunice Vargas Tamayac) aus Guatemala-City/Guatemala, Audry Funk (www.audryfunk.com | www.facebook.com/…) (eigentlich Audry Bustos Diaz) aus Puebla (Heróica Puebla de Zaragoza)/Mexiko und Nakury (nakury.com | www.facebook.com/…) (eigentlich Natasha Campos) aus Turrialba/Costa Rica + der DJ/Electronic-Musiker/Produzent Barzo (barztep.com, eigentlich Bartosz Brenes) aus San José/Costa Rica. Alle drei Sängerinnen haben eigene Solokarrieren und auch andere Bandprojekte. Als Somos Guerreras (Wir sind Kriegerinnen) haben sich sich als Feminismus-Raperinnen zusammengetan, um gegen den in Mittelamerika besonders ausgeprägten Machismo (die Region mit den weltweit meisten Frauenmorden), Sexismus, starre Rollenbilder, Schönheitsideale, Frauenunterdrückung und verweigerte Entfaltungsmöglichkeiten zu protestieren und Mädchen und Frauen zu freien Entwicklungsmöglichkeiten zu ermutigen. Sie wollen ein starkes Zeichen setzen – eine Kriegserklärung an die herrschende männerdominierte mittelamerikanische Realität. Dabei kommen die drei Frauen ursprünglich aus ganz verschiedenen Ecken: Rebeca Lane hatte Soziologie studiert und setzt sich als „Kind des Bürgerkriegs“ in Guatemala (1954-96) für die Aufdeckung der Verbrechen ein (Völkermord an Indigenen, Entführungen und Morde an politischen Aktivisten, ihre Tante Rebeca Eunice, eine soziale Aktivistin, deren Namen sie trägt) wurde entführt und ist bis heute „verschwunden“). Aus dieser Betroffenheit hat sie sich weiter zum sozialen, Jugend- und feministischen Engagement entwickelt. Weil sie auch Gedichte/Texte/Theaterstücke schreibt und sich für HipHop als Jugendkultur begeistert, waren eigene Rap-Auftritte naheliegend: damit erreicht sie ein relativ großes Publikum, ohne eine besondere musikalische Ausbildung haben zu müssen. Die andere Kriegerin Audry Funk aus Mexiko hat Philosophie studiert und sich auch für Frauenrechte engagiert und HipHop-Kultur (Breakdance, Graffiti, Fotografie) begeistert. Ihr Ziel war, mit dem Projekt „Women At Work“ mexikanische Frauen zur Teilhabe an Arbeit, Kunst und Politik in Mexiko zu motivieren. Weil sie mit der Zeit nicht unbedingt den Frauen-Mode-Idealmaßen entsprach, streitet sie auch (mit vollem Körpereinsatz) gegen ein konventionelles idealisiertes Frauenbild, Schlankheitswahn und sexistische Schönheitsideale. Inzwischen lebt sie in der Bronx/New York und ist dort aktiv. Nakury hat ganz andere Erfahrungen: als Teenager hat sie (von der Familie gedrängt) an Schönheitswettbewerben teilgenommen (in Mittelamerika scheint das eine der wenigen Karriereoptionen für Mädchen zu sein). Mit 18 hat sie das hingeschmissen und sich in der HipHop-Szene mit Breakdance und Graffiti infiziert/identifiziert. Sie wurde zur Rapperin, hat mit Union Break ein eigenes HipHop-Festival in Mittelamerika etabliert, ist Musik-Produzentin und Filmemacherin für das Projekt Somos Guerreras. Somos Guerreras ist eigentlich mehr als die 3-Latino-Rapperinnen-Band, es ist ein Projekt, Mädchen/Frauen in Mittelamerika zu vernetzen, mit HipHop Ausdrucksmöglichkeiten anzubieten und in Workshops, Vorträgen, Filmvorführungen und Auftritten diese Möglichkeiten zu erkunden. (Das reim ich mir so zusammen aus den Infos, die man so bekommen kann…) Mit dem Electronic-Musiker und Produzenten Barzo hat Nakury schon vorher zusammen gearbeitet. Bei ihrem Programm haben die drei Sängerinnen Soloparts und gemeinsame Auftritte, im Vordergrund steht auf jeden Fall die Botschaft (die mir irgendwie spanisch vorkam, weil ich es nicht verstehe), die Musik dient als „Transportmittel“ und gründet sich auf die Rap-üblichen Drumgrooves. Showmäßig waren die Drei ziemlich präsent, wobei man schon merkte, dass Nakury die professionellste Performerin und Breakdancerin ist. Und fürs Zuschauen – Schlankheitswahn hin oder Schönheitsideal her – ist das Aussehen dann doch nicht ganz egal.
Widerstand aus Nigeria: Afrobeat mit Seun Kuti & Egypt 80
Die Band Seun Kuti & Egypt 80 (www.seunkuti.net | www.facebook.com/…) hat eine lange Vorgeschichte: Fela Kuti (der Vater, hieß eigentlich Olufela Olusegun Oludotun Ransome-Kuti) & seine Band aus Lagos/Nigeria waren seit den 1970er Jahren eine Legende afrikanischer Protestpopmusik (allerdings wieder mal nicht für mich, weil ich noch nie was von ihnen gehört hatte). Er kreierte und etablierte einen neuen Musikstil (zusammen mit seinem Schlagzeuger und musikalischem Bandleader Tony Allen): Afrobeat: eine Mischung aus westafrikanischem Highlife, Yoruba-Rhythmen, Funk, Jazz, psychedelischem Rock, Calypso, Reggae und fetten Bläsersätzen. Fela Kuti gründete 1961 seine erste Band Koola Lobitos, mit der er seinen Afrobeat entwickelte (als Gegenentwurf zur dominanten US-amerikanischen Blues-Musik in Afrika). 1969 benannte er seine Band in Nigeria 70, später in Afrika 70 um, ab 1979 nannte er sie Egypt 80 – immer mit politischem Bezug zu seinen panafrikanischen Überzeugungen. Während seiner gesamten Karriere als Afrikas bekanntester Musiker stand Fela Kuti in Opposition zur Militärregierung in Nigeria und galt als deren größter Feind. Aus seinem eigenen Nachtclub Afrika Shrine in Lagos hatte er mit der Kalakuta Republic sogar eine eigene autonome Kommune für sich und seine Freunde gemacht, die 1977 von etwa 1000 Soldaten angegriffen und zerstört wurde (dabei wurde Fela und seine Mutter Funmilayo Ransome-Kuti, eine führende Frauenrechtlerin Nigerias, schwer verletzt, die Mutter wurde aus dem Fenster ihres Hauses gestoßen und starb nach 8wöchigem Koma). 1997 starb Fela Kuti an den Folgen von AIDS und sein jüngster Sohn Seun Kuti (Oluseun Anikulapo Kuti), der schon in der Band spielte und sang, übernahm die Leadsänger-Rolle und Bandführung als 14jähriger (um das Kuti-Wirriwurri komplett zu machen: es gibt seit 1985 parallel noch eine Afrobeat-Band Femi Kuti & The Positive Force des ältesten Fela-Kuti-Sohnes Olufela Olufemi Anikulapo-Kuti, aber beide Bands spielen offenbar in einer gegenseitig akzeptierten Afrobeat-Doppelrolle). Die Kuti-Familie hat auch den New Afrika Shrine als Felabration-Auftrittsort wieder gegründet. Inzwischen schreibt Seun Kuti seine eigenen Songs und entwickelte seinen eigenen Afrobeat-Stil: modernisiert, beschleunigt, neue Musikelemente (wie Rap, Reggae). 2008 kam sein erstes Album heraus, 2011 und 2018 weitere. In seinen Texten kritisiert er Korruption, Unfähigkeit der Eliten, die Ausplünderung der Ressourcen zur privaten Bereicherung, die Stagnation und Unterentwicklung in Nigeria. Wie sein Vater ist Seun Kuti sozial engagiert und politisch aktiv im Sinne eines panafrikanischen antikolonialen sozialen Umbruchs. Die treibende Musik ist für Seun Kuti auch Transportmittel für seine Überzeugungen. Und wenn der erst mal in Fahrt kommt und das Feedback stimmt, dann geht bei ihm die Post ab. In den Shows spielen sie Originalstücke von Fela Kuti und neuere eigene Stücke. Es sind eigentlich Protestsongs mit politischem Inhalt, das wird einem als (unbedarfter) Zuhörer gar nicht so bewusst. Da nimmt einen vor allem der treibende hypnotisierende Rhythmus gefangen, bei dem man unmöglich still stehen bleiben kann. Afrobeat ist eine Art polyrhythmischer Trance aus Gitarren- und Percussion-Sound (manchmal mischt noch das Keyboard mit), den die Bläser manchmal überstrahlen oder eine Weile mit eigenen Jazzimprovisationen dominieren. Der dunkle Gesang ist mehr rhythmisch als melodisch, eine Art Rap, mit trancemäßigen Wiederholungen, verstärkt durch den Response-Gesang der Backgroundsängerinnen. Vorsicht: das kann eine berauschende suggestive Wirkung haben, dass man z.B. nur noch auf die Tänzerinnen guckt. In Rudolstadt spielten: Seun Kuti (Gesang und Saxofon), die Gitarristen David Obanyedo und Oluwagbemiga Alade, der Bassist Kunle Justice, Okon Iyamba mit dem Shékere-Rasselkürbis, Oladimeji Adayomi Akinyele und Idowu Adedoyin Adefolarin als Trompeter, Ojo Samuel David (Tenorsaxofon), Adebowale Adewunmi Osunnibu (Baritonsaxofon), Kola Onasanya an den Conga-Trommeln, Shina Niran Abiodun am Schlagzeug, Wale Toriola (Klanghölzer/Percussion) und die beiden Tänzerinnen / Backgroundsängerinnen Joy Ayomide Opara und Iyabo Folashade Adeniran. Die Show-Tänzerinnen bei den Kuti-Bands sind irgendwie ein Extra-Thema: sie wirken mit geschmeidigen Tanzbewegungen, Hüftschwüngen und Powackeln (das können sie wirklich gut, es gibt sogar einen eigenen Tanzstil Afrobeat Dance) wie eine erotische Verzierung des Programms. Das ist für uns ein bisschen merkwürdig, in Lagos vielleicht nicht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang noch, dass Kuti Senior 27 seiner Tänzerinnen geheiratet hatte, gleichzeitig (das stell ich mir ziemlich anstrengend vor). Das war aber auch 1978 nach der Zerstörung seiner Kalakuta-Kommune und Auftrittsverbot mit der Absicht, den danach arbeitslosen Tänzerinnen einen Lebensunterhalt zu bieten. Seun Kuti hat sich dagegen nur mit einer seiner ehemaligen Tänzerinnen ver-/begnügt: Ademiluyi Sophia George Yetunde. Also, ich will jetzt gar nicht meckern: Joy und Iyabo haben ihren Job hervorragend (kann man für einige Körperteile wörtlich nehmen) gemacht und waren auch für mich ein schöner Blickfang (das sieht man an den vielen Fotos). Also, ein ziemlich cooles eindrucksvolles Finale bei unserem Rudolstadt-Festival 2019, denn den Anschlusszug Die Höchste Eisenbahn und die Cowboy Junkies haben wir danach sausen lassen…