Rudolstadt-Festival 2016 1 2 3 4
Heute irgendwie alles anders
Freitag kurz vor 11 (wir sind extra früh aufgestanden): Die Vorpremieren-Vorstellungen des TFF-2015-Films „Wo Worte nicht hinreichen…“ von Josephine Links sind hoffnungslos ausgebucht (bei den zusätzlichen Terminen Sonntag Mittag sollte es noch Chancen geben). Da wir nun schon so früh da waren, haben uns wieder mal ins Theater gewagt. Freitag Mittag hatte sich vor dem Theater wieder die übliche Riesenschlange auf die Lauer gelegt. Obwohl sie viel zu groß aussah, hat sie dann aber doch irgendwie in ihren Bau gepasst. Mit Wildbirds & Peacedrums (Schweden) (www | facebook | youtube) gabs ein Schweden-Duo, die alles andere sind, als eine schwedische Folkband. Eher ein spartanisches Jazz-Komplott von Gesang und Drums des Paares Mariam Wallentin und Andreas Werliin. Das fand ich erst ziemlich verstörend, bisschen wie künstlerischer Ausdrucksgesang a la „Hurz“. Nach etwas Anwärmzeit hat einen der Sound doch irgendwie erreicht. Mariam hat mit wandlungsfähiger Stimme und expressivem emotionalen Ausdruck einen Avantgarde-Experimental-Jazz zwischen Ausdruckslied, Chanson, Soul und Blues kreiert, der durch den lakonischen bis exzessiven Trommelwirbel rhythmisch kontrastiert oder begleitet wurde (manchmal bisschen zu laut). Prädikat: gewöhnungsbedürftig, krass, interessant, künstlerisch wertvoll, expressiv, ergreifend…
Vom Theater zur Großen Bühne im Heinepark: ganz anders als der „aufgepopte“ Celtic Social Club vom TFF 2015 boten Startijenn (Frankreich) (www | facebook | youtube) genau das, was man von ihnen erwarten konnte: druckvoll gespielte bretonische Musik. Ihre Instrumente wie Bombarde (Tröte), Biniou (Dudelsack), diatonisches Akkordeon, Gitarren und Schlagzeug trieben sie mit Spielfreude und rockenden Beats durch die bretonische Volkstanzmusik in die Beine des Publikums.
Zwischen Heinepark und Heidecksburgbühne liegen Welten (1,5 km Länge, vielleicht 100 m Höhe und in diesem Fall auch musikalisch). Na ja, Cäthe (Hamburg) (www | facebook | youtube): Schon irgendwie speziell, wie sie im hautengen grauen Glitzerbody mit zwanghafter Flippigkeit über die Bühne wedelte. Ihre „Schokoladenseiten“ sind ja auch wirklich sehenswert. Aber sie springt und singt und klingt angestrengt, als ob sie mit Gewalt irgendwie besonders sein will, alternativpopextravaganttoll oder so… Dabei muss sie doch gar nichts! (sagt sie selbst in ihrem Song) Aber sie will unbedingt…
Bei Halbzeit hab ich mich dann für den Heinepark entschieden: bei Gabacho Maroc (Frankreich/Spanien/Marokko) (www | facebook | youtube) gabs wieder ehrliche hand- und mundgemachte Musik in einer Fusion von Gnawa’n’Rock mit einem wüsten Hauch Jazz, also eigentlich ganz normal klasse. Gnawa ist ursprünglich eine Art religiöse Trance-Musik bei der Bessenheitszeremonie Derdeba der Gnawa, einer marokkanischen Sufi-Bruderschaft ursprünglich schwarzafrikanischer Sklaven (sagt Wikipedia). Also nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Aber Musik wirkt ja bekanntlich auch dort, wo Worte nicht hinreichen und der Verstand nicht zwingend – aber dazu später mehr.
500 m gegenüber wieder an der Großen Heineparkbühne: Wenn schon vom „Großmeister der Melancholie“ die Rede ist, dann ists eine -in und heißt Keren Ann (Niederlande/Israel/Frankreich/USA) (www | facebook | youtube): israelische Niederländerin aus Frankreich (niederländisch-javanische Mutter, russisch-israelischer Vater, geboren in Israel, aufgewachsen in Den Haag, lebt in Paris und New York – soviel Multikulti muss man erst mal verkraften). Und klingt für mich irgendwie kanadisch, wenn es das gäbe. Also vielleicht so: singer-songwrighter-nordamerikanisch, aber entspannt, ruhig, friedlich, zum Träumen und Abdriften… Der Nachteil ist, dass man manchmal hinterher gar nicht mehr weiß, was man gehört hat. Es rauscht so vorbei, man wacht auf und wundert sich, wo man ist.
Dann mussten wir dummerweise doch wieder hoch zur Heidecksburg (unsere Programmkringel wollten es so): Mit Helene Blum & Harald Haugaard (Dänemark) (www | www | facebook | youtube) gabs noch ein nordisches Musikerpaar an diesem Tag. Aber die waren nun wirklich sowas von anders als Wildbirds & Peacedrums, eigentlich das komplette Gegenteil, vielleicht Kanarienvögelchen statt Wildbird. Mit Glockenstimme, musikalischer Perfektion und einer großen Portion Schmusegefühl wurden traditionelle nordische Weisen zu Gehör gebracht. Beeindruckend war aber auch die hochschwangere Kirstine Elise Pedersen, die mit ihrem Cello eine runde Vorstellung gab. Und auch bemerkenswert war, wie sich Helene und Harald um ihre Fans gekümmert haben: eine halbe Stunde nach dem Konzert haben sie immer noch strahlend freundlich CD-Kauf-Autogrammwünsche erfüllt (ein CD-Kauf-Storm motiviert den Künstler natürlich auch).
Und wieder runter zum Heinepark: Bei so einer Prophetin wie Antombo Langangui (aus Zentralafrika) im knappen Outfit braucht man kein Prophet zu sein, um zu wissen, dass die Profetas aus Kolumbien (facebook | youtube) ihre Glaubensanhänger leicht erreichen. Mit ansteckendem afro-karibischen Gute-Laune-Disco-Hip-Hop-Sound mit einer (sag ich mal) körperlich präsenten Frontfrau haben sie ihre Anhänger überzeugt, fröhlich mitzumachen.
Manu ist dann noch mal zur Heidecksburg hochgekraxelt, um „die bedeutendste schwedische Folksängerin der letzten 30 Jahre“ Lena Willemark & die Thüringer Symphoniker (www | facebook | youtube) „mit einer Sammlung traditioneller und zeitgenössischer Lieder“ zu erleben. Diese Beschreibung weckte in mir nicht mehr so viel sportlichen Ehrgeiz, so dass ich lieber im Heinepark geblieben bin, zumal sich eine türkischstämmige DJ aus der Berliner Lesbenszene etwas spannender anhörte.
DJ Ipek (İpek İpekçioğlu) aus München/Berlin (www | facebook | youtube) hatte buchstäblich alle Hände voll zu tun, ihren besonderen orientalischen Trance-Techno aus den Maschinen zu zaubern. Für mich war es naheliegend, wieder ein paar meditative Bühnenlichtbilder zu machen.
Gegenüber auf der Großen Heineparkbühne gaben Mono & Nikitaman (die Österreicherin Monika Jaksch und der gebürtige Niederländer Nick Tilstra) aus Berlin (www | facebook | youtube) den Rausschmeißer für die tanzwütigen Kidz zwischen 10 und 50. Die Band hat sozial- und rechtskritische (das kann man beruhigt zweideutig verstehn) Texte im Hip-Hop-Reggae-Dancehall-Pop-Kleid im Angebot. OK, für mich zuviel Standard-Animateur-Phrasen: Rudolstaaadt, are you ready, clap, jump, move, shout (Schreien scheint überhaupt der Brüller der Saison zu sein). Aber wers mag…