Rudolstadt-Festival 2016 1 2 3 4
Von Wald bis wild
Dieses Jahr waren wir sogar noch mal im Theater. Die Ankündigung der Aka-Pygmäen-Gruppe Ndima (Kongo) (www | youtube) hat uns neugierig gemacht: „Hochspezialisierte Waldmenschen“, die von den herrschenden umgebenden Volksstämmen vor allem für niedere Dienste eingesetzt werden – da klingelts doch im Thüringer Wald. Aber Musik, Gesang und Tanz der 5 Pygmäen und ihres kongolesischen Bantu-Chefs haben so gar nicht an Herbert und Karin erinnert… Das war schon interessant und natürlich auch etwas gewöhnungsbedürftig und befremdlich, z.B. die Balztänze der Pygmäenfrauen im Kokosfaserröckchen. Und es war ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, „Naturmenschen“ aus ihrer natürlichen Umwelt (die Teil und Anlass ihrer kulturellen Schöpfung ist) auf eine Theaterbühne versetzt zu sehn, wo sie eine Art Ethno-Show abziehen. Andererseits wäre ich zum Festivalauftritt auch nicht zur Außenbühne in den zentralafrikanischen Dschungel gefahren und das Palmenhaus der EGA wäre auch keine Alternative. Es war schon irgendwie beeindruckend, eine „Urmusik“ zu erleben, die seit tausenden Jahren weitergegeben wird, aber es fehlte eben der Wald. Auffällig fand ich auch die unbeteiligt scheinende Abwesenheit der Akteure, wenn sie gerade nicht „dran“ waren, irgendwie als ob sie zu den Auftritten an- und abgeschaltet werden… Oder waren sie einfach nur schüchtern? Mein Eindruck: Aka ohne ihren Wald geht gar nicht!
Über Leben und Kultur der Wald-Pygmäen (Baka, Aka u.a.), die als Jäger-und-Sammler-Nomaden seit Jahrtausenden im zentralafrikanischen Dschungel leben, gibt es interessante Studien des italienischen Kulturethnologen Luis Devin (www.luisdevin.com | www.pygmies.org), der seit 1998 bei den Baka-Pygmäen in Kamerun forschte (besonders Musik und Musikinstrumente) und monatelang mit ihnen lebte. Mit Fotos, Beschreibungen und Musikbeispielen kann man sich eine bessere Vorstellung des Lebens der Waldmenschen machen. Über die Geschichte von Louis Sarno, eines Musikforschers aus den USA, der sich für die Musik der Baka-Pygmäen interessierte und schließlich mit seiner Baka-Frau im Regenwald lebte, gibt es einen Film, Bücher und CDs (songfromtheforest.com). Noch mehr Informationen: über die Aka: ethnolyceum.wordpress.com/… | über Sorel Eta, den Gründer der Gruppe Ndima: www.levurelitteraire.com/… Da kann man auch erfahren, dass die Pygmäen dieser Gruppe in dem gemischten Aka-Bantu-Dorf Kombolo bei Impfondo (Nordkongo) sesshaft angesiedelt sind, aber prinzipiell als Pygmäen von den herrschenden Bantu als wilde Untermenschen angesehen und eigentlich wie Sklaven behandelt werden.
Vom Urwald im Theater zum Urgestein im Heinepark: Carmelo Torres y su cumbia sabanera (Kolumbien) (facebook | youtube) schien aus dem kolumbianischen Cumbia-Bilderbuch entsprungen zu sein. 4 gesetzte Herren und ein junger Gitarrero im frisch gebügelten Folklorekostümen spielten mit gut 200jähriger Erfahrung und Routine handgemachte, volkstümlich-ländliche Tanzmusik der kolumbianischen Karibikküste. Carmelo Torres schien dabei schon förmlich mit seinem Akkordeon verwachsen zu sein. Milde lächelnd lüpfte er nach jedem Lied den Sombrero zum Gruß, eben alte Schule.
Von ganz anderem Kaliber war King Ayisoba und seine Band aus dem westafrikanischen Ghana (www | facebook | youtube). Ein paar Narben hatten die Jungs alle (gehört vielleicht in Ghana zur Jugendweihe) und der Tag der Zahngesundheit ist dort kein Thema. Scheinbar hat er in Accra mit seiner alten Kologo (2saitige Kürbislaute) eine Straßengang gebildet, die nun mit agressiv-hypnotischen Rhythmen die Musikwelt in Schach halten will. Wahnwitzig war vor allem Abadoongo Adontanga, der als Tänzer ein ausgeprägtes Kopfschütteltrauma verarbeiten musste (da wurde mir schon vom Zugucken schwindlig) und zur Erholung zwischendurch den letzten Rest Atemluft durch das Dorgo-Horn pustete – Mäh…
Bei der Sängerin Gasandji (Kongo/Frankreich) (www | facebook | youtube) konnte man sich von King Ayisobas Attacken und dem anstrengenden Aufstieg zur Heidecksburg erholen. Denn die schöne Sängerin mit dem lustigen Haarpuschel will mit ihrer Musik „Seelen heilen“ (das hatten wir auch nötig). Und außerdem hatte sie uns alle lieb, was man nur zu gerne glauben wollte. Mit sanften franz-afrikanischen ChanSongs, klasse Stimme und ein paar netten Worten hat sie uns so betört, dass wir uns zu einem CD-Kauf hinreißen ließen. Bezeichnend für ihren Charme war auch, dass es die Mädchen und Jungs der slowakischen Gypsy-Tanzgruppe Kesaj Tchavé nicht backstage hielt, sondern zum Tanz vor die Bühne trieb.
Auf der Burgterrasse haben wir noch bei Nive & The Deer Children vorbeigehört (www | youtube). Nive Nielsen, eine Inuit aus Grönlands Hauptstadt Nuuk macht mit ihrer internationalen Band The Deer Children Eskimo-Folk-Pop nach amerikanischer Singer-Songwrighter-Art, schöne Stimme, ruhige Songs, aber ein bisschen zu einfach gestrickt (fand ich). Außerdem mussten wir weiter… Unser Festival-Zeitplan war nicht einfach, sondern doppelt eng gestrickt.
Zur Aufrechterhaltung unserer sportlichen Fitness war das nächste Rudolstadt-Festival-2016-Highlight (das ich, zusammen mit einigen tausend anderen Festivalbesuchern, auf keinen Fall verpassen wollte) wieder down under im Heinepark: Anoushka Shankar, englisch-indische Sitar-Spielerin aus London (www | facebook | youtube). Anders als ihre Halbschwester Norah Jones, die eher als Soul-Jazz-Singer-Songwrighterin unterwegs ist, hat Anoushka von ihrem berühmten Vater Ravi Shankar gelernt, Sitar (eine indische Langhalslaute mit Kalebassen-Schallkörper, also grundsätzlich wie eine ghanaische Kologo, aber mit 10facher Bespannung) zu spielen und führt das Sitar-Spiel sowohl als klassisch-indische Raga als auch moderne Fusion fort. Und sie hat wirklich Klasse: musikalisch, spieltechnisch, ausstrahlungsmäßig und sieht auch noch toll aus… Das war (für mich) unbedingt ein Highlight der bisherigen Rudolstadt-Festival-Geschichte, die auch sonst an musikalischen Referenzen nicht gerade arm ist.
500 Meter gegenüber sorgten die Dakh Daughters (Ukraine) (www | facebook | youtube) mit einer verrückten Punk-Musik-Kabarett-Theater-Aufführung für faszinierende Eindrücke, bei der 6 krass geschminkte Schauspiel-/Tänz-/Säng-/Musikerinnen ihre extravagante anarchistische Show zwischen Unschuld vom Lande, ukrainischem Frauenchor, Ballett, Oper, Punk und Rammstein abzogen. Auf jeden Fall war es fesselnd, ekstatisch, expressiv, intelligent, überraschend und gekonnt, was sie auf der Bühne trieben – vielleicht könnte man es extra-ordinär nennen – oder einfach krass.
Danach wirkte die bestimmt nicht musikmainstreamangepasste US-amerikanische Hip-Hoperin Akua Naru aus Köln (www | facebook | youtube) zunächst ziemlich brav. Aber mit Intensität, anspruchsvollem Fusion-Jazz, einer starken dunklen Stimme und einem coolen Auftritt hat sie den Heinepark bis nach 2 gerockt.