Rudolstadt Festival 2018 1 2 3 4
Freitag, 06.07.2018 9 Konzerte – rund 11 Stunden Musik – Rudolstadt ist kein Ponnyhof oder Wunschkonzert oder doch?
Der Festivalfreitag fing für uns (mit leider viel zu viel Sommer) auf der Burgterrasse im Schallhaus an: kleine feine Spielstätte mit toller Akustik. Nach 6 Jahren leider kein Geheimtipp mehr, sondern bei entsprechendem Interesse auch schon wieder eine verdammte Warteschlangengrube. Bei Mahlukat (mahlukatmusik.com | kasiakadlubowska.com | Mahlukat @ Youtube) gings noch und wir hatten das Glück, direkt vor den beiden Musikerinnen sitzen zu dürfen. Mahlukat (Türkisch für Kreaturen, sagt Wiki P. Dia) sind die türkische Geigerin Güldeste Mamaç und die polnische Percussionistin Kasia Kadłubowska aus Mannheim. Sie spielen (heißt es) „Cinematic-Oriental Music“, aber damit kann ich nichts anfangen. Ich würd‘ es melancholisch-orientalischen Geigenjazz mit Rahmentrommel-Begleitung nennen. Güldeste hat nach einem Aufenthalt in Varanasi (Indien) (Vorsicht, Wikiwissen) ihre Richtung gefunden und die Musik geschrieben. Kasia ist eine studierte, ausgezeichnete Klöpplerin, die mir besonders mit dem Klick-Klack-Kugeln-Solo gefallen hat, aber sonst vielleicht etwas zu zurückhaltend war? Jedenfalls war es schon sehr emotional berührend. Bis am Ende einige übermotivierte Festivalstrategen wegen „dringender Termine“ keine Zeit mehr für eine Zugabe hatten, was die Musikerinnen mit (zu) verständnisvollem Lächeln quittierten. Liebe deutsche Weltmusikfreunde, stellt euch noch am Besten einen Wecker, wenn ihr zum nächsten Programmpunkt müsst, damit alles seine Ordnung hat. Egal, sie haben sich doch noch zu einer Zugabe vor dezimiertem Publikum hinreißen lassen.
Das nächste Konzert war nämlich Punkt 14:30 Uhr eine Etage höher auf der Burgterrasse: Mari Kalkun & Runorun (www.marikalkun.com | www.maijakauhanen.com | Runorun @ Facebook | Mari Kalkun & Runorun @ Soundcloud | Mari Kalkun & Runorun @ Youtube). Die estnische Kanell-Spielerin (estnische Zither) und Sängerin Mari Kalkun zusammen mit der finnischen Kanele-Spielerin (finnische Zither) und Sängerin Maija Kauhanen und die Runorun-Restband Tatu Viitala (Percussion) und Nathan Riki Thomson (Kontrabass) spielen estnisch-volksmusikbasierte Kompositionen von Mari Kalkun. Und wem Ungarisch, Finnisch und Lettisch sowieso schon spanisch vorkommt, der ist beim südestnischen Dialekt Võro mit Sicherheit am Ende seines Lateins. Hört sich aber (auch ohne ein Wort zu verstehen) interessant-geheimnisvoll an. Mari Kalkun ist eine sehr sympathische, authentisch-natürliche estnische Musikerin/Sängerin, die aus ihrer südestnischner Volksmusiktradition (Regilaul) und Sprache schöpft. Schöne dichte, mal dunkle, mal zarte, mal schneidende Stimme in magischen Volksmusikkompositionen. Eigentlich ziemlich faszinierend-hypnotisierend, aber Maarja hinter den 7 Bühnen… (siehe unten)
Wir wollten dann sowieso auf der Burg bleiben: Omar Sosa & Seckou Keita (Kuba/Senegal/Frankreich) (www.omarsosa.com | www.seckoukeita.com | Omar Sosa & Seckou Keita „Transparent Water“ @ Youtube) hörte sich interessant an: Omar Sosa spielte auf dem ausgiebig gestimmten Steinway-Flügel, Seckou Keita an der Kora (afrikanische Kürbislaute) und Gustavo Ovalles (Venezuela) sorgte für den Percussion-Hintergrund. Omar Sosa ist ein bekannter kubanischer klassisch geschulter Jazzpianist, nicht nur ein Wanderer zwischen den musikalischen Welten von Klassik, Jazz, Folk, Salsa, Hiphop, Electronic, Gnawa…, sondern auch zwischen den Lebenswelten in Kuba, Ecuador, Mallorca, San Francisco, Barcelona… Seckou Keita (aus der Griot-Familie Cissokho) aus dem Südsenegal (lebt aber in England) spielt Kora und Percussion (z.B. bei der britischen afrokeltischen Band Baka Beyond). Gustavo Ovalles aus Venezuela ist der „Hofpercussionist“ von Omar Sosa. Ihr gemeinsames Programm „Transparent Water“ ist eine Art perlend-meditativer afrokubanischer Folkjazz, Kompositionen von Omar Sosa, gespeist aus lateinamerikanischer und westafrikanischer Musiktradition, aufgeladen mit der kubanischen Religion Santería. Omar Sosa & Seckou Keita sind ziemlich extravagante Show-Musiker mit einem reichen Repertoire schauspielerischer Attitüden. Ihr merkwürdiger (selbst)verliebter Balztanz zum Schluss hat (für mich) das sonst tolle „transparente Wasser“ etwas getrübt, aber vielleicht sollte es auch nur spektakulär lustig sein?
Die 25 Jahre junge, schnuckelige Sängerin Elida Almeida (www.elidaalmeida.com | Elida Almeida @ Youtube) von der Kapverden-Insel Santiago war dagegen angenehm zurückhaltend. Aber sie konnte auch anders: mit einem blondmähnigen Tanzpartner ihrer Wahl aus dem Publikum im Latina-Hüftschwung… Ihre Musik: kreolischer Batuque, Funaná, Tabanka, brasilianisch-portugiesisch-afrikanische Rhythmen ihrer Heimatinsel Santiago mit eigenen Texten, z.B. über Armut, Alkoholsucht, häusliche Gewalt, Sexualaufklärung, Teenagerschwangerschaft, Bildung, Selbstbestimmung… Ziemlich beeindruckende Karriere: aufgewachsen als Halbwaise in ärmlichsten Verhältnissen auf Santiago und Maio, ihre Mutter war Straßenhändlerin, sie sang im Kirchenchor, später in Bars, wurde mit 16 Mutter, wurde vom kapverdisch-französischen Produzenten José da Silva entdeckt (der hatte schon die „barfüßigen Diva der Kapverden“ Cesária Évora bekannt gemacht), produzierte 2014 ihr erstes Album „Ora doci, Ora margos“ (Mal süß, mal bitter) mit Eigenkompositionen, Auftritte in Portugal, Frankreich und den USA, 2015 Radio France International Prix Découvertes (Entdeckerpreis), 2016 Cabo Verde Music Awards, 2017 zweites Album, 2018 beim Rudolstadt-Festival…
Nach dem Abstecher zum Heinepark musste ich wieder zurück zum Heidecksburg. Dabei kann man sich auch immer mal die Festivalatmosphäre des Innenstadtgetümmels genießen. An der Marktstraße haben mich Electro-Klänge von TribalNeed (www.tribalneed.com | TribalNeed @ Soundcloud | TribalNeed @ Youtube) magisch angezogen. TribalNeed ist der italienische Straßen- und Clubmusiker Riccardo Moretti, der inzwischen in Kapstadt lebt. Als Solomusiker macht er mit Synthesizer, Didgeridoo, Trommel, Rassel & Beatboxing einen vielschichtigen aboriginal-afrikanischen Ethno-Electro-Techno-Impro-Sound indem er vorgefertigte Samples und Lifemusik-Sequenzen in Loops mischt – Life-Electronic. Nicht schlecht…
Ich musste mich dann doch losreißen, denn ich wollte ja eigentlich zum Inder (nicht essen, sondern hören): Shiv Kumar & Rahul Sharma (www.santoor.com | www.rahulsantoor.com | Shiv Kumar & Rahul Sharma @ Youtube). Shiv Kumar Sharma ist ein legendärer indische Santur-Spieler, der das ursprünglich kaschmirische Volksinstrument Santur (eine 72saitige Tischzither, die mit Holzstäbchen geklöppelt wird) in die klassische indische Raga-Musik eingeführt hat. Das sollte eigentlich gar nicht gehn, weil man mit den angeschlagenen Tönen den gleitenden Ragasound, wie’s der Inder gern hat, nicht erreichen kann. Mit Geduld und Spucke, ne, und Instrumentenanpassung und besonderer Spielweise hat’s Shiv Kumar geschafft, die Santur als klassisch-indisches Soloinstrument zu etablieren. Darüber ist er mittlerweile 80 Jahre alt geworden, was man sich angesichts seiner weißen Lockenmähne nur schwer vorstellen kann. In Rudolstadt trat er zusammen mit seinem Sohn Rahul und dessen Frau Barkha Sharma sowie dem Tabla-Spieler Ramkumar Mishra auf. Rahul Sharma hat natürlich von seinem Vater Santur-Spielen gelernt, beherrscht die Feinheiten der klassischen Musik, ist aber auch am modernen Fusion und New Age interessiert. Duette von Shiv Kumar & Rahul Shandra mit zwei Santur-Soloinstrumenten sind eine Besonderheit. Eine Besonderheit ist auch Barkha Sharma (die Frau von Rahul), die sich zwar an der Tanpura nicht fertig macht (ist ja auch nur Soundbegleitung), dafür aber andere Vorzüge hat: Einerseits ist sie sehr ansehnlich und andererseits entwirft sie als Modedesignerin mit ihrer Schwester Sonzal (www.barkhansonzal.com) die Auftrittskleidung „ihrer“ Männer selbst, so dass die schon als die bestangezogendsten Musiker ausgezeichnet wurden. Außerdem ist sie auch noch Tänzerin (was uns aber in Rudolstadt leider vorenthalten wurde). Für meinen Musikgeschmack hören sich aber 2 Santurs (Santuren?) über anderthalb Stunden zu gleichförmig „klimprig“ an. Dafür war es halt ein Augenschmaus.
Freitag, halb 23 am Neumarkt: Maarja Nuut (maarjanuut.com | Maarja Nuut @ Youtube | Maarja Nuut @ soundcloud.com) aus Estland (Länderschwerpunkt beim Rudolstadt Festival 2018, was für ein Glück). Sehr cool (und ein wenig melancholisch): meditative Klangwelten aus baltischer Volksmusik + Märchen + Geige + Stimme + vielschichtige Loops, die sich selbst verstärken… Ihre Klangwunderwelt entsteht live durch ineinander verwobene Loops der gerade erst eingespielten Musiksequenzen zu einem Klangteppich, auf dem sie die Lieder geigt und singt. Diese Frau ist einfach wahnsinnig… hypnotisierend (also auch ihre Musik mein‘ ich natürlich) – und mein Highlight beim diesjährigen Rudolstadt Festival 2018. Ganz einfache ursprüngliche Volksmelodien, ohne Fisematenten, Getue und Anbiederung, dafür aber intensiv, meditativ und berauschend – einerseits archaisch ursprünglich und gleichzeitig hypnotisierend-modern. Kann man nicht so einfach beschreiben, kann man aber uneingeschränkt empfehlen. Maarja Nuut ist eine fantastische, kreative Musikerin: sie hat eine klasse Stimme, ist instrumental souverän, musikalisch kreativ und sieht auch noch toll aus… ein faszinierendes Erlebnis. Übrigens hab ich auch eine der wenigen mitgebrachten CDs „Une Meeles“ (Traumschlaf) erstanden und ein paar Texte grob übersetzt: da geht es eigentlich wenig märchenhaft zu, sondern eher um das Ende der Freiheit von Mädchen durch die Ehe…
Eigentlich hätte meine Musik hier enden können, aber am Güntherbrunnen waren noch ein paar sehr interessante Musiktypen: Doontki (Doontki @ Facebook | Doontki @ Youtube) aus Polen. Das sind Grzegorz Kot aus Kraków an Gitarre und Mischpult und der serbische Hippiezausel Goran Dimitrijewski an Trommeln + Rasseln. Das ergibt zusammen einen Live-Electro-Psychedelic-Trance, den man diesem Instrumentarium gar nicht zutrauen würde (erinnert bisschen an Pink Floyds Set The Controls For The Heart Of The Sun). Da konnte man schon mal abdriften…
Aber ich wollte auch noch zu den Frankokanadiern im Heinepark: Solo (Le Vent du Nord + De Temps Antan) (leventdunord.com | detempsantan.qc.ca | Solo @ Youtube). Das ist das Projekt zweier Folkbands aus Québec mit zusammen 8 Musikern, die traditionell Fiddel, Akkordeon, Gitarre spielen, drehleiern und fußtrampeln (auf einem kleinen Brett). So keltisch-französisch-kanadische Tanzmusik kommt aber nach 2 Stunden Hypnose gar nicht gut… Mit einem Guiness wurde es besser…
Ach, hätt‘ ich beinah vergessen: Manu hat sich noch ein paar Zusatzkonzerte verdient. Sie wollte mal wissen, was es mit der estnischen Chortradition auf sich hat und war im Stadthaus beim E STuudio Nooortekoor (noortekoor.estuudio.ee | E STuudio Noortechor @ Youtube), ein gemischter klassischer Jugendchor aus der estnischen Musikhauptstadt Tartu, der weltweit gastiert. Das mag künstlerisch wertvoll und für Chorliebhaber hinreißend sein, aber… nach einer halben Stunde war sie auch am Neumarkt bei Maarja Nuut.
Aber da war sie komischerweise auch nicht lange (was ich nicht verstehen kann, aber sie hatte auch keinen guten Platz in der Menge), sondern wollte zum ägyptischen Rocker Ramy Essam (was ich beim Bilder angucken ein bisschen verstehen kann, mal als Frau betrachtet) (www.ramyessamvoice.com | Ramy Essam @ Youtube). Aber außer unglaublichen Muskeln und schwarzen Locken hat Ramy Essam auch noch Engagement zu bieten: er politisierte sich mit der ägyptischen Revolution 2011 und wurde mit der Hymne „Irhal“ (verschwinde… Husni Mubarak) zum Protest-Frontsänger auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Daraufhin wurde er angegriffen, verhaftet, zusammengeschlagen, gefoltert und hatte Auftrittsverbot. 2014 emigrierte er nach Schweden. Bei seinen Auftritten engagiert er sich mit seiner Musik weiter für politische Reformen in Ägypten, sicher auch in Rudolstadt… Aber ich war nicht dabei und sehe nur ein paar Bilder in Showposen…