Rudolstadt Festival 2018 1 2 3 4
Sonntag, 08.07.2018 Ziemlich exotisch heute
Nach 2 heftigen Musikfestival-Tagen in Rudolstadt (+ ein harmloser Auftaktabend) war die Luft erst mal bisschen raus. Gut, dass der Sonntag nicht mit Pauken & Trompeten anfing, sondern mit Dewa Alit & Gamelan Salukat (www.dewaalitsalukat.com | Salukat @ Youtube), einem Gamelan-Orchester aus Bali (Indonesien). Salukat sind etwa 25 Musiker an rund 50 Instrumenten unter der Leitung von Dewa Alit, dem bedeutendsten Komponisten von Gamelan-Musik der Gegenwart. Gamelan ist die traditionelle indonesische Musik (besonders auf Java und Bali), die zu rituellen und weltlichen Zeremonien oder zur Unterhaltung gespielt wird (in Tempeln, zur Geburt, Heirat oder Tod, zu Puppentheater, Schattenspielen & Tänzen oder Zahnfeilungszeremonie…). Gamelanorchester spielen hauptsächlich auf Bronze-Schlaginstrumenten: eine Batterie Metallophone (Gangsa – heißt Bronze/Messing, die unterschiedlich gestimmte Bronze-Klangplatten haben, die mit einem Holzhämmerchen angeschlagen werden, Gangsa können auch männlich oder weiblich sein, den Unterschied kenne ich nicht, hatten wir im Biounterricht nicht behandelt), Buckel-Kesselgongs, Hänge-Gongs, Trommeln (Kedang, Doppelfell-Röhrentrommel, von denen es auch Männchen und Weibchen gibt), vielleicht noch Xylophon, Flöten und Lauten… Gamelan-Musik ist ein präzise durchkonstruierter, für jedes Instrument spezieller Rhythmus, mit möglichen Verzierungen durch Soloinstrumente oder Gesang, der erst in der Gesamtheit das Kling-Klangbild ergibt. Die Trommel dient zur Strukturierung des Musikstücks, zeigt Anfang, Ende, Übergänge und Rhythmuswechsel an. Dewa Alit hat ein eigenes 7-Ton-Gamelan-Set entwickelt (üblicherweise 5-Ton), ist in der traditionellen balinesischen Musik verwurzelt, spielt mit seinem Orchester aber „moderne“ eigene Kompositionen im Gamelan-Gong-Kebyar-Stil (zeitgenössische, virtuose, dynamische Ausprägung, seit Anfang des 20. Jh. entwickelt, aber nicht von ihm, so alt ist er nicht). Gamelan-Musik und Tanz gehören unbedingt zusammen. Das können heilige, Opfer- oder moderne Tänze sein (die Inhalte reichen von Götter-Opfern, Prinzen & Prinzessinnen, Willkommenstänzen über Krieger- und Maskentänzen bis zur Pubertät von Jugendlichen | bei www.balipuspa.de gibt es einen Überblick und Erklärungen). Auch in Rudolstadt sind 3 allerliebste puppenhafte Bali-Tänzerinnen aufgetreten. Eine balinesische Tänzerin soll makellos aussehen, ist auffällig geschminkt (mit Betonung der Augen) und trägt traditionelle prächtige Kleidung und Schmuck (besonders neckisch die beiden goldenen Blümchen-Fühler am Kopfschmuck). Der balinesische Tanz ist absolut durchchoreografiert, in jedem Detail vorgeschrieben. Fußstellungen, Hand- und Fingerbewegungen, Kopfhaltungen und -wackeln und ausdrucksstarke Blicke haben festgelegte Bedeutungen. Die Tänzerinnen haben weniger kreativen Gestaltungsspielraum, sondern sollen den vorgegebene Ablauf ideal umsetzen. Je nach Bedeutung besteht der Tanz aus anmutigen fließenden oder auch roboterhaften Bewegungen. Besonders auffällig sind die fließenden Handbewegungen mit überstreckt gebogenen Fingern (das muss man von klein auf üben), das Fingerzittern und Augenrollen, insgesamt ein sehr exotischer, graziler Eindruck. Die Bali-Tänzerinnen erinnerten an die Apsara in Kambodscha und traditionelle indische oder Thai-Tänzerinnen (sicher, weil die Tänze gemeinsame Ursprünge in der hinduistischen Religion haben). Ähnlich, aber auch wieder ganz anders ist der Bodhisattva-Tanz der 1000 Hände (Bodhisattva sind Erleuchtete des buddhistischen Glaubens), die atemberaubende Tanzchoreografie einer chinesischen Gehörlosen-Tanzgruppe: Thousand Hands Dance @ Youtube.
Manuela zog es danach im Bella-Ciao-Sommerfieber auf die Heidecksburg. Italienische Partisanenlieder bei 30 Grad im Schatten in den Thüringer Tropen, da bin ich raus, Ciao Bella! (Nuovo Bella Ciao @ Facebook | Bella Ciao @ Youtube)
Ich bin da lieber im Heinepark geblieben, da gabs auch was mit Rot: Red Baraat (www.redbaraat.com | Red Baraat @ Youtube), die New Yorker Band des ursprünglich nordindischen Jazz-Schlagzeugers und Dhol-Trommlers Sunny Chain. Baraat ist eigentlich der traditionelle nordindische Hochzeitszug des Bräutigams zu seiner Braut, der mit Musik und Tanz begleitet wird. Dazu wird hauptsächlich die Dhol-Trommel gespielt (Doppelfell-Röhrentrommel, eine Seite heller gestimmt als die andere, mit zwei unterschiedlichen Stöcken geschlagen). Dhol-Trommeln gehören zum Bhangra, einem Punjabi-Volkstanz (z.B. bei Hochzeiten), der als Bollywoodtanz in ganz Indien, Großbritannien und weltweit populär wurde. Red Baraat spielte mehr so Jazz-Rock-Bhangra-Brass mit einer „vorlauten“ Brass-Fraktion aus Trompete (Sonny Singh), Saxo- (Jonathon Haffner) und Sousafon (Kenneth Bentley). Dazu spielte Jonathan Goldberger Gitarre und der modellathletische Chris Eddleton Schlagzeug (der ist wirklich auch Herrenmode-Model). Aber Brass’n’Drums mag ich weder in der Balkan- noch in der Bhangra-Version. Also Zeit für ein Rudolstadt-Festival-Menü aus Pizza & Bier…
Danach wurde es noch mal ziemlich exotisch auf der Konzertbühne im Heinepark, die sich in das Buschland der afrikanischen Kalahari-Wüste verwandelte: Shishani & Namibian Tales (www.namibiantales.com | ) ist eine multinationale Band aus Amsterdam, die zusammen mit 4 San-Frauen das Programm Kalahari Encounters (Kalahari-Begegnungen) aufführten. Um diese ungewöhnliche Mischung zu verstehn, muss man etwas weiter ausholen: Shishani Vranckx ist eine belgisch-namibische Singer-Songwrighterin, die aber in den Niederlanden lebt. Dort hat sie in Leiden und Amsterdam Kulturanthropologie, Entwicklungssoziologie und Musikwissenschaft studiert, mit besonderem Interesse für die namibische Musik ihrer Kindheitsheimat. Diese ursprünglichen namibischen Musikstile verband sie mit ihren afroamerikanisch geprägten Soulbluespopsongs in eigenen Fusion-Kompositionen und gründete für ihre erste CD „Itaala“ mit dem türkisch-niederländischen Perkussionisten Shahin During die Band Namibian Tales (Namibische Geschichten). Dazu gehören noch der ungarische Cellist Bence Huszar, die deutsch-niederländische Mbira- und Kora-Spielerin Debby Korfmacher und im neuen Programm der namibische Bassgitarrist Afron Nyambali, also eine ganz schön bunte Truppe. Bei ihren Musikstudien in Namibia kam Shishani Ende 2016 zum Dorf //Xao/oba (die seltsame Schreibweise mit Lautschrift-IPA-Zeichen steht für besondere Schnalz-, Lispel- und Klicklaute der Khoisansprache) bei Tsumkwe in der Kalahari (Nordwest-Namibia, ehemaliges südafrikanisches Homeland Buschmannland). Dort leben die ursprünglichsten Ureinwohner Afrikas, die Ju/’Hoansi oder San, von Europäern auch Buschmänner genannt. Ihre freie traditionelle Lebensweise als nomadisierende Jäger und Sammler wurde zunehmend zurückgedrängt, sie leben in festen Siedlungen, verdienen ihren Lebensunterhalt teilweise durch touristische Vorführungen ihrer Kultur und lebensweise. Die faszinierenden tranceartigen Tänze der San mit polyrhythmischem Klatschen und polyphonem Jodel- oder Sprechgesang nahmen die niederländischen Musiker auf und konnten 4 ältere Frauen (die die rituellen und Unterhaltungstänze noch behrrschten) für eine Zusammenarbeit gewinnen: N!ae Komtsa (so’ne Art Clanchefin des Dorfes), Baqu Kha//an und die Schwestern Seg//ae & //Ao N!ani. Die Band verarbeitete die San-Musik in eigenen Kompositionen zu dem sanafroeuropäischen Weltmusik-Fusion-Konzeptprogramm (nenn ich’s mal) Kalahari Encounters, das sie 2017 mit den San-Frauen ausfeilten und am 22. Juni 2017 in Windhoek uraufführten. 2018 war das Rudolstadt-Festival eine der 6 Aufführungen (in den Niederlanden, Deutschland und Österreich), für die die San-Frauen nach Europa gekommen sind. Statt Seg//ae N!ani (eine der Schwestern) trat aber ein San-Mädchen sozusagen als Nachwuchs-Oma an: Kgao Xoa//an (könnte sie heißen, schön, die San auch mal in jung zu sehn). Von den alten San-Frauen hat mir //Ao N!ani am besten gefallen, die nicht nur sehr interessant aussah, sondern engagiert, sympathisch und irgendwie mit natürlicher Eleganz aufgetreten ist (soweit ich das beurteilen kann). Insgesamt ein faszinierender, eigenwilliger, ungewöhnlicher Auftritt…
Leider haben wir danach irgendwie den Rudolstadt-Festival-Faden verloren und die folgenden Konzerte auf der Großen Heinepark-Bühne verpasst: Betsayda Machado & Parranda El Clavo (Venezuela) und Fatoumata Diawara (Mali/Frankreich). Schade um die schönen Bilder (und die Musikeindrücke natürlich)…