Rudolstadt Festival 2019 1 2 3 4
05.07.2019 Krasses Kontrastprogramm
Dorfmusik aus den Transkarpaten
Für den Freitag hatten wir mal wieder keinen Plan, im Stadtzentrum und auf der Heidecksburg war erst mal nichts, was uns besonders interessierte. Also Zeit zum Herumschlappen. Um 3 haben wir mal zur Großen Bühne im Heinepark geguckt: die Hudaki Village Band (hudakivillageband.com) ist ein Transkarpaten-Dorfmusik-Orchester aus dem Dorf Nyzhnje Selyshche im Gebiet Máramoros in der Südwest-Ukraine (bei Maramures/Rumänien und Ungarn). Hudaki werden dort die traditionellen Dorf- und Hochzeitsmusiker genannt. Initiator der Band ist der Wiener Klarinettist Jürgen Kräftner, der seit Anfang der 2000er Jahre in Nyzhnje Selyshche lebt und jetzt als Yuri Bukovynets für die Flötentöne der Band zuständig ist. Die Musiker der Hudaki Village Band spielen auf traditionellen Instrumenten (Gitarre, Zymbal, Knopfakkordeon, Geige, Flöte, Klarinette, Kontrabass, Trommel) einen authentischen Karpaten-Volksfestmusik-Mix aus slawischen, rumänischen, jüdischen und Roma-Traditionen. Kateryna Yarynych als Sängerin sorgt für die slawische Seele der Musik. Da brannte die Luft, nicht nur wegen der Musik, sondern weil Nachmittags die Sonne direkt in die Große Bühne im Heinepark reinbrennt und die erste Musikerreihe grillt.
Weltmusik von den indopazifischen Inseln
400 m gegenüber auf der anderen Seite der Heinepark-Welt auf der Konzertbühne gab es dann ein Highlight beim Rudolstadt-Festival 2019: Small Island Big Song (www.smallislandbigsong.com). Das ist ein Musik/Filmprojekt des australischen Musik/Filmproduzenten Tim Cole (der schon „Urvolksmusik“-Aufnahmen bei den Aborigines und auf den pazifischen Inseln von Vanuatu gemacht hatte) und seiner taiwanesischen Partnerin BaoBao Chen (die nach ihrem Betriebswirtschafts-Studium eigentlich nur ein paar Jahre in Australien herumreisen wollte und dann zur Kulturmanagerin und Filmproduzentin wurde). Das Projekt entstand als Reaktion auf den für die indopazifische Inselwelt existenzbedrohenden Klimawandel, die fortschreitende Natur- und Kulturzerstörung. BaoBao Chen: „Wissenschaftler liefern seit Langem Fakten und Lösungen, aber niemand hört richtig zu. Wir haben die Gabe, mit den Musikern eine Geschichte zu erzählen, und wenn wir so die Menschen übers Herz ansprechen, können wir vielleicht eine nachhaltigere Veränderung anstoßen.“ (aus „Folker“ | www.folker.de/…) Für die weit verstreut liegenden Inseln im riesigen Gebiet des indopazifischen Ozeans ist ein verbindender Aspekt, dass die indigenen ozeanischen Völker eine gemeinsame Wurzel in der austronesischen Sprachfamilie haben, die sich von Madagaskar bis zur Osterinsel erstreckt. Die Sprachähnlichkeit resultiert aus der Besiedlungsgeschichte: Seefahrer aus Südchina/Taiwan haben vor 3500 Jahren nach und nach die Inselwelt Polynesiens entdeckt und sich dort angesiedelt.
Über drei Jahre haben Tim Cole und BaoBao Chen unterschiedlichste Musiktraditionen der indopazifischen Völker aufgespürt, dokumentiert und gesammelt: 33 Musiker/Gruppen aus 16 Inselstaaten. Die Musikclips wurden live vor Ort ohne besondere technische Finesse aufgenommen: die Künstler sollten draußen an einem Platz ihrer Wahl (der für sie eine besondere kulturelle Bedeutung hat) ein traditionelles Musikstück in ihrer Volkssprache (das ihre Kultur repräsentiert) mit traditionellen Instrumenten spielen. 2018 wurde der Film und das Musikalbum „Small Island Big Song“ veröffentlicht und das Projekt mit einer Welttournee bekannt gemacht (Australien, Ozeanien, Nordamerika, Europa, Asien). Und 2019 in Rudolstadt – großartig! – traten auf: Ado Kaliting Pacidal (Pangcah-Volk/Taiwan, Nasenflöte, Gesang | www.facebook.com/…), Alena Murang (Kelabit-Volk/Sarawak/Borneo, Sape, Gesang | www.alenamurang.com | www.facebook.com/…), Charles Maimarosia (A’re’A’re-Volk/Salomonen, Bambus-Panflöte, Gesang | www.facebook.com/…), Jerome Kavanagh (Māori/Aotearoa/Neuseeland, Taonga pūoro, Gesang | www.puorojerome.com), (Jacques) Kujah Sabeni (Betawi-Volk/Neukaledonien, Percussion, Gesang | www.facebook.com/…), Piteyru Ukah (Truku-Volk/Taiwan, Bambus-Maultrommel, Gesang | www.facebook.com/…), Sammy Samoela (Andriamalalaharijoana) (Merina-Volk/Madagaskar, Valiha/Röhrenzither, Jejy/Stockzither, Sodina/Flöte, Gesang), Tai Siao-Chun (Sauljaljui) (Paiwan-Volk/Taiwan, Percussion, Gesang), Yoyo Tuki (Rapa Nui/Osterinsel, Ukulele, Gesang | www.yoyotuki.com | www.facebook.com/…) Der Beginn des Programms mit dem kraftvollen Senasenai a Mapuljat (dem Lebensfluss folgen) von Tai Siao-Chun ist wirklich toll. Mit dunkler Stimme und großer Präsenz singt sie eindrucksvoll von der Weite des Ozeans und den polynesischen Seefahrern, die die indopazifische Inselwelt erkundeten und besiedelten. Alle Musiker sind die besten ihrer Inseln, die eindrucksvoll ihre spezielle traditionelle Kultur rüberbrachten. Sie spielten ausschließlich traditionelle Instrumente und singen in der eigenen indigenen Sprache. Außerdem waren sie traditionell gekleidet, teilweise mit Körperbemalung oder Tätowierungen. Obwohl das natürlich ein sehenswertes, vielfältiges, exotisches und buntes Bild ergibt, kamen mir manche „Verkleidungen“ auch ein bisschen aufgesetzt und merkwürdig vor. Das Programm ist so bisschen eine Nummernrevue, bei der jeweils einer der Musiker mit seinem Beitrag im Vordergrund steht, aber von den anderen instrumental oder backgroundmäßig unterstützt wird. Aber es gibt auch Stücke, die alle gemeinsam spielen. So entsteht ein Kaleidoskop der vielfältigen indigenen Musik der indopazifischen Inseln.
Iran 2: 2 Klassische Meistermänner
Über die blühende Saale und das tobende Leben in der Rudolinnenstadt sind wir dann zur Neumarktbühne gepilgert: mit Ali Ghamsari (www.facebook.com/…) und Kamran Montazeri (www.facebook.com/…) traten dort zwei Spitzenmusiker des Irans auf. Ali Ghamsari ist ein Meister der Tar: die Langhalslaute ist das typische traditionelle persische Musikinstrument schlechthin (erinnert mich etwas eine kleine Sitar). Kamran Montazeri spielt virtuos Tombak, eine traditionelle Holz-Bechertrommel, auf der er unglaubliche Rhythmen und Klangbilder erzeugt. Zusammen können einen die beiden in Trance spielen. Ali Ghamsari aus Teheran hat klassische persische Musik studiert, ist Komponist, hat das Institut für persische Musik in Teheran gegründet, lehrt als Professor für Komposition und persische Musiktheorie und spielt in mehreren Musikgruppen. In seiner Musik verbindet er persische Musiktradition mit Elementen moderner zeitgenössischer Musik und jazzigen Improvisationen.
3 Rap-Sirenen aus Argentinien
Im Kontrastprogramm kam danach Fémina (Spanisch: weiblich/Frau | www.facebook.com/… | femina.bandcamp.com): ein Frauen-Gesangstrio aus Argentinien: Sofía und Clara Trucco (www.facebook.com/…) und Clara Miglioli (+ Oli Miglioli als Hintergrundmusiker). Die 3 Freundinnen stammen ursprünglich aus San Martín de los Andes, einer idyllischen Kleinstadt in den Bergen Patagoniens am Lago Lácar. Die Schulfreundinnen Sofía „Toti“ Trucco und Clara „Clari“ Miglioli begeisterten sich für Rap-Musik und -Tanz. Mit 19 gingen sie nach Buenos Aires und wollten Theater und Tanz studieren, hatten dann aber die Idee, als Rapperinnen „Claridad“ und „Filosofía“ (Klarheit und Philosophie) zu Texten von Clara (die inzwischen auch Lyrik schrieb) aufzutreten. Später kam die „kleine“ Schwester Clara „Wewi“ Trucco dazu (die eigentlich Malerei/Grafik studierte und auch noch Fotomodell ist). Als Trio Fémina machen sie eine Art Sirenen-Latino-Flamenco-Folk-Funk-Rap-Pop-Fusion. In den Songs geht es um Klischees und Wirklichkeit, Weiblichkeit, Feminismus, Ansprüche, Selbstverwirklichung, Leben, Sex und Liebe (sagt man, mein Spanisch ist nicht so gut). Sie performen mit Souveränität, Tiefgang, Kreativität, Energie, Expressivität, Unangepasstheit und Witz. Sofía Trucco hat den Auftritt mit Einsatz und Ausstrahlung dominiert. Für ihre Auftritte (und Plattencover) ist es sicher nicht nachteilig, dass sie auch noch gut aussehen. Alle drei Frauen singen, „Toti“ spielt Gitarre und Ronroco (eine kleine volkstümliche Gitarre aus Bolivien), „Clari“ spielt auch Gitarre, „Wewi“ spielt Cajón. Alle drei haben auch noch andere, eigene Musikprojekte oder schauspielern am Theater oder Film. Oli Miglioli sorgte für zusätzliche Musik, denn die neuen 2019er Stücke (Perlas & Conchas: Perlen & Muscheln) wurden mit breiteren Musikarrangements bis hin zu Electronic realisiert. Bemerkenswert ist noch, dass Clara Miglioli ziemlich hochschwanger aufgetreten ist.
Iran 3: Trad-Trommel-Electro-Grooves
Wieder ganz anders gings im Heinepark mit Habib Meftah (www.facebook.com/…) und Nicolas Lacoumette weiter. Habib Meftah Bushehri ist ein leidenschaftlicher Trommler aus Bushehr im Südiran am Persischen Golf. In seiner Musik mischen sich persische, arabische, indische und afrikanische Rhythmen. Früher war er 17 Jahre lang Bandmusiker bei Saeid Shanbezadeh (ein Nachkomme afrikanischer Sklaven in Bushehr). Seit Anfang der 2000er Jahre lebten und spielten sie zeitweise in Paris. Nach der Rückkehr in den Iran 2004 gab es zunehmend Schwierigkeiten und Auftrittsverbote, 2008 wanderte er endgültig nach Paris aus. Seit 2014 verfolgt Habib Meftah seine Solokarriere (singt auch und spielt Flöten). Zusammen mit dem französischen Electronic-Musiker/DJ Nicolas Lacoumette (spielt noch Maultrommel) haben sie einen Percussion-Electronic-Trance-Sound entwickelt, der die traditionelle südiranische Musik in die Danceclubs katapultiert.
Nordische Klaviersphären aus Island
Richtig soundexperimentell wurde es Freitag Nacht zur besten Tanzpartyzeit: wo sonst südtemperamentvolle Partybands den Heinepark rocken, gab’s dies mal Chill-out aus dem hohen Norden: minimal-electronic-neo-klassische Klaviersphären von Ólafur Arnalds (olafurarnalds.com | www.facebook.com/…) aus Mosfellsbær/Island (ein bisschen Sigur Rós, aber viel klassischer). Natürlich nicht alleine, sondern mit hochkarätigen klassischen Konzertmusikern: Johanna Niederbacher (aus Österreich) als Cellistin, Sigrún Harðardóttir und Pétur Björnsson (Island): Geige, Karl Preska (Österreich?): Viola/Bratsche, Christian Tschuggnall (Österreich): Schlagzeug (www.christiantschuggnall.com). Das war mal was zum Abdriften in eine laue Sommernacht. Ólafur Arnalds war 2019 mit dem neuen Programm re:member auf Europatour mit Station in Rudolstadt: ent-spannend-berauschende intensiv-strahlend-athmosphärisch-klassische Klänge im modernen Sound mit Lichteffekten als Gesamtkunstwerk. Ólafur Arnalds hat’s eben als Komponist drauf. Ziemlich krass, wenn man bedenkt, dass er als Teenager als Drummer der Hardcore-Metal-Band Fighting Shit angefangen hat (die klingen ungefähr so, wie sie heißen, auf jeden Fall hat er sich am Schlagzeug ganz schön abgearbeitet). Ein Studium klassische Musiktheorie und Komposition hat er abgebrochen (war ihm zu abgehoben). Trotzdem ist noch was aus ihm geworden… Gastmusiker/Soundschnipsler/-arrangeur und Komponist für andere Musiker (z.B. für die Saalfelder Death-Metalcore-Band Heaven Shall Burn), Komponist für Filmsoundtracks, Multiinstrumentalist und einer der angesagtesten Neo-Kreativ-Klassiker. Ólafur Arnalds kriecht in seinen Flügel (das noch zwei andere Klaviere über eine eigens entwickelte Tonmodulations-Software „Stratus“ steuert), versinkt in Sounds und taucht wieder auf, um ganz locker zu plaudern und Witzchen zu machen… Cool