Rudolstadt Festival 2022 1 2 3 4
09.07.2022 Vielseitig und einsaitig
Mixolypsian
Eigentlich hatten wir uns für Sonnabend Mittag Alice Rose im Schallhaus auf der Heidecksburg-Terrasse rausgesucht. Die dänische Straßenmusikerin/Sängerin aus Berlin war aber nicht da, sondern Mixolypsian (www.facebook.com/…), eine internationale 3-Mann-Band aus Leipzig: der Iraner Pouria Kiani (Geige, Kamantsche), Humam Nabuti aus Syrien (Gitarre, Fretless/Bundlos-Gitarre, wer wie ich nicht weiß, was das ist, kann sich mal den türkischen Gitarristen Cenk Erdoğan ansehen: youtu.be/…) und Benedikt Fritz (Klarinette, Bassklarinette), wahrscheinlich alle drei Absolventen der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Die drei versierten Instrumentalisten bringen ihre jeweils eigenen Musikerfahrungen von klassisch, orientalisch, spanisch bis Klezmer ein. Das Ergebnis sind ruhige, irgendwie weltmusikalische Instrumentalstücke, die vielleicht ein bisschen zu artig daherkommen. Ich denke, sie sind noch in der Findungsphase…
Ein bisschen in Rudolstadt umher
Weil wir gleich danach kein „Programm“ hatten, sind wir ein bisschen umhergeschlendert: auf der unteren Burgterrasse haben wir uns den Horentempel etwas genauer angesehen, ein kleiner halbrunder „Musentempel“-Maueranbau, an dem man sonst immer vorbeigeht: Horen sind die griechischen Göttinnen der zeitlichen Ordnung (Jahreszeiten, Lebenszeit und so), also dafür zuständig, dass alles zu seiner richtigen Zeit passiert – also Schicksalswächterinnen, dass man z.B. rechtzeitig zum nächsten Konzert kommt oder Freizeit hat… Bis zur Rudol-Altstadt reicht ihr Einfluss scheinbar nicht, denn das Haus Kleine Badergasse 7 ist schon lange über „rechtzeitig“ drüber. Das stark sanierungsbedürftige Fachwerkhaus stand zur Besichtigung offen, bot rohe Wände, Balken und Böden, eine kleine Ausstellung über Fachwerksanierung in Thüringen und einen hauseigenen Klavierspieler (vielleicht hat sich auch ein Gast drangesetzt). Dann haben wir noch kurz bei den Straßenmusikern Unfolkommen aus Dresden vorbeigehört (Micha Schaufuß & Frank Menzer), haben Einblicke in Rudolstädter Nebenstraßen-Stillleben bekommen, einen ganz guten Mittags-Inder gefunden, den Jon-Walsh-Auftritt im Handwerkerhof nicht erlebt (weil er nicht da war) und sind durch die Musikinstrumenten-Mangelgasse geschlendert (da mangelt es ganz und gar nicht an Musikinstrumenten, sondern die Straße zum Neumarkt heißt so). Außer Musikinstrumente gabs dort auch Ankerbausteine, die legendären Steinbaukästen der Anker-Werke Rudolstadt (erfunden übrigens von den Brüdern Lilienthal). Und weil wir in der Nähe waren, haben wir gleich zum Neumarkt-Konzert geguckt…
Oh No Noh
Noch jemand aus Leipzig: Markus Rom (ursprünglich aus Weiden/Oberpfalz) als Oh No Noh (www.oh-no-noh.de | www.facebook.com/ohnonohmusic | markus-rom.de | www.facebook.com/markus.rom.3): ein experimentelles Solo-Musikprojekt mit Elektro-Gitarre, programmierbaren Klang-Robotern und Kassettendeck. Es war schon irgendwie cool, wie der Musiker so ein bisschen nerdmäßig introvertiert inmitten seines Machinariums auf der Bühne stand. Der Jazzgitarrist erforscht und kreiert unkonventionell Klanglandschaften aus Klangstrukturen seiner E-Gitarre, Synthesizer, Alltagsgeräuschen, Samples, Loops und skurrilen Rhythmus-Maschinchen. Da kommt ein interessanter, ungewöhnlicher, merkwürdig berauschender Psychedelic-Minimal-Elektro-Trance raus. Das hat man auf dem Neumarkt auch gesehen: reihenweise sanken die Leute aufs Straßenpflaster und verfielen in meditative Traumhypnose – Where One Begins And The Other Stops (heißt sein aktuelles Album). Interessant ist auch das Radioprojekt Oh No Noh Radioh auf sphere-radio.net, bei dem Markus Rom mit jeweils einem anderen Musiker eine experimentelle Musiksession zu einem bestimmten Thema improvisiert: sphere-radio.net/…
Duo DUVA
Ganz anders, aber auch schön: das Duo DUVA aus Kiel (www.duvamusic.com): Elena Schmidt-Arras (Gesang, Elektronik | www.elena-schmidt-arras.de) und Klaus Frech (Gitarre, Bass, Percussion, Elektronik | www.klausfrech.de), beide irgendwie mit Nordlust infiziert. Die beiden spielen/singen einfache alte nordische Volkslieder (aus Schweden und Norwegen) in eigenen Arrangements – ganz nah, ganz direkt, wunderbar entspannt, ohne Fisimatenten. Auf dem Innenhof der AWO-Begegnungsstätte am Markt 8 saßen wir unmittelbar vor dem kleinen Bühnenpodium, also näher gings fast nicht. Das war auch gut (für uns), um den feinsinnig-gefühlvollen Gesang von Elena Schmidt-Arras verfolgen zu können. Sie kann dafür ja auch allerhand Erfahrungen in die Waagschale werfen: geboren in Ostberlin, wuchs in Jena auf, Studium Theaterwissenschaft in Erlangen, Schauspiel in Hannover, schwedische Volksmusik/Gesang in Malung/Schweden, lebte in Paris, Theatergruppen, Schauspielerin, Sängerin, Lehre und Inszenierungen in Kiel, Liederprogramme, lebt jetzt in Salzburg/Österreich… Klaus Frech war da geradliniger: Cembalo/Alte Musik an der Folkwang-Hochschule Essen, Gitarre, Klavier, Kontrabass, Rahmentrommel, Pop/Jazz-Projekte, Komposition, Arrangement und gar nicht frech, sondern eher nordisch-zurückhaltend.
Wild Strings Trio
Gut, dass es zur Marktplatzbühne nicht so weit war (praktisch nur aus dem Haus raus), denn das Wild-Strings-Trio-Konzert (wildstringstrio.org | www.facebook.com/wildstringstrio) stand auf meiner Wunschliste und begann direkt im Anschluss. Die Bühne auf dem Marktplatz gehört mit ihrer Größe, der unpersönlichen Ausstrahlung, den proppevollen Sitzbänken und dem geschäftig-unruhigen Treiben ringsum nicht gerade zu meinen Lieblings-Schauplätzen – aber wat mutt, dat mutt (sie traten sonst nur noch im Theater auf, und das ist noch schlimmer, weil man oft nicht reinkommt). Die drei Musiker wirkten ein bisschen verloren auf der großen Bühne, haben den Raum aber mit Spielfreude und Präsenz ausgefüllt: die slowakische Jazz-Geigerin Petra Onderufová (petraonderuf.com), der ursprünglich klassische Cellist Toby Kuhn (tobyscello.org) aus Frankreich und der slowenische Gitarrist, Multiinstrumentalist, Sänger und Komponist Aleksander Kuzmić (aleksanderkozmic.wordpress.com). Ich glaub, 2016 haben sie die Band gegründet, als sie gerade alle in Ljubljana waren. Petra Onderuf aus Banska Bystrica hat Geige und Cello gelernt, aber statt Klassik-Cello-Studium in Brno dann doch lieber Jazz-Geige in Klagenfurt gemacht: Interesse für Improvisation, Ethno, Weltmusik und… sympathische Selbstdarstellung. Mit ihrem energetisch-dynamischen Auftritt war sie der Mittelpunkt des „Wilde-Saiten-Dreiers“ (natürlich auch mit ihrem virtuellen Spiel). Toby Kuhn aus Burgund hatte erst mal klassisches Cello und Musiktheorie studiert, dann aber auch die unklassischen Möglichkeiten des Cellos ausprobieren wollen, ist als Straßenmusiker unterwegs gewesen, hat sich für Folk- und besonders für Balkan-Musik interessiert, ist in Ljubljana gelandet… Da war der Slowene Aleksander Kuzmić sowieso schon (nach einem längeren Australien-Aufenthalt): ein balkan-folk-initialisierter Sänger, Gitarrist, Multiinstrumentalist und Musical/Theater-Schauspieler aus Maribor/Slowenien: weitere Interessen: N’Goni (Spießlaute in Westafrika), Bouzouki (griechische Laute), allerhand Flöten und Flamenco. Die Schnittmenge ihrer Musik könnte man vielleicht als Balkan-Latino-Jazz bezeichnen: unterschiedlichste Musik-Erfahrungen, die sich in einem eigenen speziellen Weltmusik-Stil wie selbstverständlich verbinden.
Brushy One String
So, und dann kam einer meiner Favoriten des diesjährigen Rudolstadt-Festivals (Danke schon mal für seine Einladung): statt vieler wilder Saiten nur eine einzige Bass-Saite auf der Gitarre: Brushy One String (eigentlich Andrew Chin) (www.brushyonestring.com | www.facebook.com/brushyonestringmusic) aus Jamaika auf der Konzert-Bühne im Heinepark. Kein Studium, kein Geld, keine Connections (na ja, nur den bekannten Reggae-Sänger Freddie McKay als Vater). Wir haben uns natürlich vorher informiert: „Rising Up“ am Fischmarkt in Kingston, „Love Never Leave Me“ am Strand, Street Jam in San Telmo/Buenos Aires/Argentinien (für mich die besten Aufnahmen überhaupt: Live and Love@www.youtube.com/…): aber hier kam ein irritierender, runderneuerter Brushy: im goldenen Anzug und mit Zähnen wie aus dem Dental-Bilderbuch. Egal, Brushy hat immer noch den Blues und den Reggae sowieso… Jah… Der hat’s einfach drauf und schafft einen dichten Sound mit nur einer Saite, Gitarren-Clapping, rauer Stimme und jeder Menge Soul. Dabei sind seine Songs eigentlich ganz simpel: eine kurze Grundmelodie, treibender Rhythmus, ein paar Textzeilen und ständige Wiederholung, aber es ist bewundernswert, wie er das rüberbringt… selbst mit einem Nonsens-Song wie „Chicken In The Corn“ (über 57 Millionen Aufrufe auf YouTube, nicht gerade mein Favorit, aber damit wurde er weltbekannt: als Soundtrack zum Dokumentarfilm „Rise Up“ von Luciano Blotta von 2007 über Untergrund-Musiker, die eine Musikkarriere wollen, Armut, Gewalt und Korruption in Jamaika). Sicherheitshalber streute Brushy aber auch noch paar Bob-Marley-Standards ein: „Get Up, Stand Up“ und „No, Woman, No Cry“, das geht immer…
Kajsa Balto Band
Dann mussten wir wieder hoch zur Burgterrasse: die Kajsa Balto Band (www.kajsabalto.com | facebook.com/kajsabalto) stand auch auf unserem Wunschprogramm-Zettel. Kajsa Balto ist eine junge (halb)samische Sängerin aus Oslo/Norwegen aus einer musikalischen Familie: Mutter aus Dokka/Südnorwegen, Vater aus Kárášjohka/Karasjok („Hauptstadt“ der norwegischen Samen in Finnmarka/Nordnorwegen). Ihr erster veröffentlichter Song „Vári Alde“ (2016) war eine Mischung aus beiden Einflüssen: das bekannte norwegische Volkslied „Oppå Fjellet“ (den Berg hinauf) teils auf Norwegisch, teils auf Sami gesungen. Mit der nächsten Veröffentlichung „Kárášjohka“ wandte sie sich mehr dem samischen Joik zu, ein traditioneller Schamanen- und Alltagsgesang der samischen Urbevölkerung Nordskandinaviens. Joiks können richtigen Liedtext enthalten, aber auch nur Laute ohne spezielle Bedeutung (auch Tierlaute oder Naturgeräusche), sie sind eher Gefühlsausdruck in einer Situation oder um Verbundenheit mit etwas/jemandem herzustellen. Die Wiederholungen und Modulation zwischen lapidar und dramatisch können tranceartig wirken. Bei der Kajsa Balto Band werden die Joiks in eine Art Jazz-Pop-Rock verpackt. Dafür sorgten: die Cellistin Ragnhild Tronsmo Haugland (Cello), Aleksander Sjølie (Gitarre | www.aleksandersjolie.com) und ein Schlagzeuger, der offensichtlich nicht die angekündigte Karoline Børhei war. Das war schon hübsch anzuhören, Kajsa Balto war sehr liebenswürdig mit schöner Stimme und niedlichen Grübchen, Ragnhild Tronsmo Haugland war eine Schau, wie sie die Musik mitlebte, aber es kam mir insgesamt viel zu artig vor…
ÄTNA
Über Ätna (atnaofficial.com) mag ich nicht viel sagen: ein Electronic-Pop-Musikprojekt von Inéz Schaefer/Kappenstein (aus Saarbrücken) und Demian Kappenstein (aus Euskirchen/Nordrhein-Westfalen), die aber sowas von cool sind… Scheinbar kann man mit ein paar Dance-Beats, spacig verzerrter Stimme, ko(s)mischen Klamotten, Laserpointer-Handschuhen, Discokugel-Helm und Gymnastik-ball-ett Teenies beeindrucken, denn die fanden es toll. Beide Musiker haben die Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ in Dresden absolviert (Richtung Jazz und Improvisation, Gesang bzw. Schlagzeug) und sich da kennengelernt, waren Musiker in einem Folk-Jazz-Quintett (Pantoum, Inéz Schaefer Quartett + Demian Kappenstein), haben sich dann aber zu zweit als Duo Ätna neu erfunden: „Der Sound des Quintetts sei vorher sehr akustisch und reich an Jazz und Folk gewesen. Als Duo haben sie dann mehr Elektronik einfließen lassen und die Akkorde beschränkt.“ (sagte Demian bei einem Interview) Der war übrigens schon mal als hochmotivierter Schlagzeuger mit der Band Masaa beim TFF 2015, jetzt schraubte er mehr so an den Reglern rum und hüpfte über die Bühne. Und Inéz kann wunderbar böse gucken und ihre extravaganten Klamotten vorzeigen (singen vielleicht auch, aber das konnte man durch die Verzerrung nicht so gut beurteilen)… Nix für mich, viel zu viel gekünsteltes Getue.
Mein Bedarf an Highlife war vorerst gedeckt, so dass ich das folgende aus Ghana mit Santrofi abgewählt hab.