TFF 2015 1 2 3 4
Freitag, 3. Juli: Frauen-Rock Around The Clock
Freitag Mittag um 1 auf der Großen Bühne Heidecksburg: Alin Coen Band (alincoen.com | Alin Coen Band @ Youtube) (aus Hamburg, Weimar oder Leipzig oder wo sonst, ganz egal! So nah, so unglaublich gut, warum sagt ein’m das keiner?) als Opener für die heiße Phase (im wirklichen Wortsinn) des Festivals. Vorher nicht gekannt, aber gleich gefangen, mein Favorit dieses TFF-Jahres. Weiß gar nicht, wie man es erklären soll, aber Alin Coen hat ein‘ mit ihren Songs einfach überrumpelt, mitgenommen und berührt. Klingt irgendwie blöd, aber so war’s. nicht irgendwie kitschig oder schleimig oder so, sondern ehrlich und lebendig. Alin Coen: einfach intelligente sinnreiche Texte + einfühlsame Musik + natürliche, eindrucksvolle, sinnliche Interpretation (und sieht nebenbei auch noch toll aus) = Musikerlebnis mit Suchteffekt. Und dann gibts da noch diese berührende Aufnahme vom „Letzten Lied“ bei TV Noir, die einfach umwerfend ist, weil es selbst Alin Coen fast aus der Fassung bringt: „Das letzte Lied“ . Alin Coen @ Youtube. Und da hätte man ja auch selber drauf kommen können: „Du bist so schön“ (≈Hätte nicht gedacht, dass ein Klavierstück solche Wirkung entfalten kann. Du bist nicht nur schön, du bist auch richtig gut, find ich.)
Nächste Station Burgterrasse: Masaa (www.masaa-music.de), die Band um den deutsch-libanesischen Sänger Rabih Lahoud zusammen mit der israelischen Sängerin Yael Deckelbaum (www.yaeldeckelbaum.com | Masaa feat. Yael Deckelbaum @ Youtube) Wenn der orientalische Ethnojazzarabica von Masaa auch hoch gelobt wird, fand ich es doch ziemlich künstlich, irgendwie stilisiert, aber vielleicht kam mir auch die arabische Wortziselierkunst spanisch vor und ich habe es nur nicht verstanden. Aber mit Yael Deckelbaum, die der Vorstellung dann ihr Leben eingehaucht/-gesungen/-gespielt hat, gewann es spürbar an Präsenz, Emotion und Ausdruck. Und der Schlagzeuger Demian Kappenstein hat sowieso richtig reingehauen.
Einmal oben am Schloss, überlegt man sichs zweimal, ob man die mühsam gewonnenen Höhenmeter wieder hergibt. Zum Glück, denn das walisische „Großmütterchen“ 9Bach (Nain Bach = kleine Großmutter, www.9bach.com | 9Bach @ Youtube) wurde einer meiner weiteren Favoriten… Und Lisa Jen war gar nicht großmütterlich, sondern ziemlich agil, hingebungsvoll und sehr sympathisch : feenhafter oder auch dunkler samtiger Gesang, hypnotische Musik, spannende intelligente Arrangements und Spielfreude. Interessanter walisischer Sprachklang, der wirklich Raum für Mitfühlen bietet, auch, wenn man nichts konkret versteht. Man fühlt einfach die Stimmung (vielleicht ähnlich Isländisch).
Leider musste ich meine Begeisterung für das walisische Großmütterchen teuer bezahlen: ich konnte ihre schöne gambische Enkelin (von nebenan aus London) Sona Jobarteh (www.sonajobarteh.com) im Heinepark nicht mehr erleben, was eigentlich fest eingeplant war. Als Dessert-Blues-Fan darf man die erste Kora-Spielerin einfach nicht verpassen. So muss ich mich jetzt mit den Bildern von Manuela (die rechtzeitig die Kurve gekriegt hat, na ja, relativ, immerhin hat sie eines der anderen großartigen Konzerte verpasst) und der Musik von Sona Jobarteh @ Youtube begnügen.
Dann doch der Abstieg in die heißen Niederungen der Stadt: zu einem kurzen Abstecher am Neumarkt (eigentlich wegen der Pizzeria nebenan), wo die Schweizer Dorftanzmusiker Ils Fränzlis da Tschlin (www.fraenzlis.ch | Ils Fränzlis da Tschlin @ Youtube) zum Tanz aufspielten, was auch dankbar vom Publikum angenommen wurde. Alpine Dorftanzmusik ist ja eigentlich gar nicht meins und ich war auch nur zwecks Hungerbekämpfung in der angrenzenden Pizzeria, aber lustig wars mit dem lockeren Tanzpublikum trotzdem (noch dazu, wenn man beim einzigen Regenschauer dieser Tage im Trockenen sitzt).
Mein weiteres Programm fand dann im Heinepark statt: zuerst Sés (www.mariaxosesilvar.com | Sés @ Youtube) auf der Konzertbühne. Die ernergiegeladene spanische Folkrockerin hat mit Spielfreude/-wut, Authentizität und Einsatz bis zum Umfallen beeindruckt. Sie war offen, sympathisch direkt und sehr engagiert. Obwohl es mit der straighten, manchmal einfach gestrickten Rockart nicht unbedingt meine Musikwelle ist, fand ich es sehr kraftvoll und dann auch ganz erfrischend in der allgemeinen „Folkerei“. Bemerkenswert war auch der kleine Percussion-Wirbelwind Lorena Martín „Cachito“ (Lorena Martín „Cachito“ @ Youtube), die sich wirklich intensiv in ihr Schlagwerk reinhängte.
Von Galizien nach Carolina übern großen Teich waren es im Heinepark nur etwa 500 Meter, aber es liegen Welten dazwischen. Rhiannon Giddens (rhiannongiddens.com | Rhiannon Giddens @ Youtube) (apostrophiert als „Amerikas – eigentlich USA, soviel Zeit muss sein – nächste große Frauenstimme“) hat wirklich eine tolle Stimme, spielt auch ganz allerliebst Banjo und sieht toll aus, aber nach der überbordenden Energie von Sés wirkte sie irgendwie blass (darf man das über eine farbige USAmerikanerin sagen?), schaumgebremst und sehr artig.
Der quietschbunte schrille Musikzirkus der englischen Band Gabby Young & Other Animals (www.gabbyyoungandotheranimals.com | Gabby Young & Other Animals @ Youtube) war wieder das ganze Gegenteil: fröhlich oder dramatisch und temperamentvoll mixten sie oldenglish Diva, Girlypop, Swing, Balkanbrass, Folkrockjazzpunk und Cabaret zu einer anarchistischen fantasievollen Show, bei der Gabby Young neben ihrer Opernstimme auch noch buchstäblich eine gute Figur abgibt und toll aussieht. Man könnte sie ein Gesamtkunstwerk nennen. Leider war mein Blickpunkt schlecht, viel zu weit weg und ein Durchkommen wäre nur mit krimineller Energie möglich gewesen, also wieder Fotos von Manuela, die rechtzeitig da war.
Im August hab ich sie dann noch mal aus der 1. Reihe bei der Kulturarena in Jena bewundern dürfen. Dabei war die Aufmachung nicht ganz so ausgefallen, aber die Vorstellung war auch wieder hinreißend, mitreißend-fröhlich oder berührend-dramatisch. Sie macht einfach interessante Songs, kann fantastisch singen und hat eine ansteckende Bühnenpräsenz, die trotz der meist extravaganten Aufmachung umwerfend natürlich-sympathisch rüberkommt. Gabby Young & Other Animals gehören seitdem unbedingt zu meinen Musikfavoriten, die sich in meinem Gehör eingenistet haben. Berauschend finde ich ihre melancholisch-emotionalen Akustiksolos… (hör mal: Gabby Young „Male Version Of Me“ @ Youtube | Gabby Young „We’re All In This Together“ @ Youtube)
Den Rausschmeißer machten am 2. Festivaltag Les Ambassadeurs aus Bamako/Mali/Frankreich, die wiederauferstandene Uraltband von 1970 um den Sänger Salif Keïta (www.salifkeita.net | Les Ambassadeurs @ Youtube – dieses Video „Mali Denou“ mit seiner Tochter Salif Nantenin Keïta, die als durch Albinismus blinde Läuferin an den Paralympics sehr erfolgreich teilgenommen hat, ist super). Die Geschichte dahinter ist, dass Afrikaner mit Albinismus (durch Pigmentierungsschwäche hellere Haut, Haare und Augen, Sehschwäche oder Blindheit) wie Salif Keïta natürlich besonders auffällig sind und diskriminiert, ausgestoßen oder sogar verstümmelt und getötet werden. Um seiner Stiftung zur Unterstützung der Albinos in Afrika (Salif Nantenin Keïta Foundation) Aufmerksamkeit und Geld zu verschaffen, hat er die ehemalige malische Supergroup Les Ambassadeurs mit alten und jüngeren Musikern wiederbelebt. Unabhängig von dem bemerkenswerten Engagement fand ich die Musik aus Mandinka-Rhythmus und Big-Band aber etwas altertümlich, irgendwie westafrikanisches Musikorchester des vorigen Jahrhunderts…