Rudolstadt Festival 2018 1 2 3 4
Sonnabend, 07.07.2018 Coole Mugge an heißen Tagen
Auch am Sonnabend waren wir wieder im Heinepark (vorn am Spieplatz) frühstücken. Da ist es schön: um 9 noch leer, schattig, manchmal spielt jemand Musik oder Fangen oder Fußball (Gruß an das coole Mädchen, das ausdauernd Torschüsse trainierte und den Jungen, der ausdauernd im Tor zwischen zwei Bäumen stand). Dann gab’s da noch dieses tolle Ofenbrot bei den Bauernhäusern…
Und es gab noch einen Auftritt von Maarja Nuut & Ruum (das ist Hendrik Kaljujärv) (maarjanuut.com | Maarja Nuut & Ruum @ Youtube) im Stadthaus, den ich zu gerne erlebt hätte. Aber bei einer Warteschlange von etwa 150 m um 2 Ecken waren die Chancen gering. Mit den letzten 5 Glücklichen sind wir doch noch in die Vorstellung gekommen und hatten eine prima Draufsicht auf Maarja (nachdem ich am Vorabend unmittelbar vor der Neumarktbühne schon ihre Untersicht kennengelernt hatte). Mit Electronic-Gewaber von Hendrik Kaljujärv am Mischpult und Lichtshow haben die mystisch-meditativen Songs von Maarja Nuut noch eine neue intensive Psychedelic-Dimension bekommen, aber auf Dauer ist es vielleicht auch etwas zu viel des Guten?
Für den weiteren Sonnabend hatten wir keinen richtigen Plan, deshalb sind wir ein wenig durch die Innenstadt geschlendert. An der Marktstraße war dies mal Tom Kirk (www.tom-kirk.de | Tom Kirk @ Youtube), ein Hamburger Liedermacher und Kindergärtner (Musikerzieher) in Bomlitz (irgendwo im Bermudadreieck zwischen Bremen, Hamburg und Hannover). Seine Hits wie „der frühe Vogel (kann mich mal)“ oder „Nazis am Dorfteich“ strotzen jetzt nicht unbedingt vor musikalischer Finesse, sondern sorgen eher mit derbem Wirtshauscharme für Belustigung (außer vielleicht bei den frühen und anderen Vögeln).
Eigentlich wollten wir ja weiter zum Garten der Zapfes in der Weinbergstraße (davon haben wir im Infoheft gelesen und waren neugierig, wie’s dort ist). Also: es ist eigentlich sehr schön am ehemaligen Weinhang unterhalb der Heidecksburg, eine kleine Gartenbühne zwischen Büschen und Bäumen, die Besucher sitzen am Gartentisch oder verteilen sich auf die umgebenden Hangterrassen. Aber warum musste sich Manu gerade die Rostocker Männer-Kraftgesangs-Shanty-Breitlings (www.breitlings.de | Breitlings @ Youtube) aussuchen, das war gar nicht nach meinem Fischkoppgeschmack und ich war raus…
Stattdessen wollte ich lieber zu Kristallklangwelten (www.klangtempel.net | Kristallklangwelten @ Youtube) im Schallhaus auf der Heidecksburgterrasse, weil sich das in der Beschreibung interessant anhörte: 4 Musiker, die auf Salzinstrumenten (Didgeridoo, Klangschalen und so), Harfe und Hang sphärisch-heilende Musik machen. Das waren aber auch schon 100 andere Leute hingepilgert, die wieder eine dieser verfluchten Warteschlangen bildeten und sogar die Fensterplätze schon reserviert hatten. So spannend ist Kristallklanggedöns bestimmt gar nicht, da war ich auch raus…
Eine wirkliche Alternative (musikalisch komplett entgegengesetzt und außerdem im Heinepark) war Bombillaz (Bombillaz @ Facebook | Bombillaz @ Youtube) eine estnische Punk-Reggae-Party-Spaß-Band aus Tallinn. Das sind 5 studierte, aber lockere Musiker um den sympathischen Frontmann Kill Baba, der sich als Stimmungskanone betätigte (eigentlich Kill Kaare, der auch super Didgeridoo spielen kann, was mir wesentlich besser gefallen hätte: Kill Baba @ Youtube). So Partystimmungsmusik ist ja eigentlich gar nicht mein Ding, aber die „Glühbirnen“ (Spanisch: Bombillas = Glühbirnen) fand ich ganz lustig, zumal sie extra ein deutsches Lied einstudiert hatten (dachte ich da noch): aber der Punkrockkracher „Die Woche“ stammt von der estnischen Punkband Propeller (Peeter Volkonski @ Wikipedia | Propeller: „Die Woche“ @ Youtube), die 1980 wegen Staatsfeindlichkeit verboten wurde, seit der estnischen Unabhängigkeit 1991 aber wieder aufgetreten ist. Bemerkenswert war auch noch die Verwandlung von Kadi Uibo, die sonst eher folkfeenhaft auf Zither und Harmonium spielt, in eine Punkerin (auch haarschnittmäßig).
Weil wir nichts Besseres vorhatten, sind wir dann einfach im Heinepark geblieben: Auf der Großen Bühne spielte das El Gusto Orchestra (El Gusto Film | El Gusto Orchestra @ Youtube | El Gusto Geschichte @ www.nytimes.com), ein Orchester aus etwa 20 arabischen und jüdischen Musikern aus Algerien und Frankreich. El Gusto (Freude, Leidenschaft, gute Laune) war ursprünglich eine Gruppe von arabischen und jüdischen Musikern (Studenten der ersten Chaabi-Musik-Klasse am städtischen Konservatorium Algier), die in den 1940er/50er Jahren Chaâbi, die arabisch-andalusische Volks-Unterhaltungsmusik in Algier spielten. In den Wirren des algerischen Unabhängigkeitskriegs löste sich das Orchester in den 1960er Jahren auf. Viele, vor allem jüdische Musiker emigrierten nach Frankreich, die anderen mussten ihren Lebensunterhalt irgendwie anders verdienen. Damit hätte sich das Kapitel El Gusto erledigt, wenn nicht die 22jährige irische-algerische Architekturstudentin Safinez Bousbia 2003 in Algiers Altstadt Kasbah Mohammed Ferkioui, den damals 76jährigen ehemaligen Akkordeonspieler von El Gusto getroffen hätte. Safinez Bousbia war von der Geschichte so fasziniert, dass sie versuchte, die Musiker des El Gusto Orchesters nach über 50 Jahren wieder zusammenzubringen und die Chaâbi-Musik wiederzubeleben. 2007 hatte sie es geschafft, über 20 der alten Musiker in Algerien und Frankreich aufzuspüren und für ein Konzert in Marseille zusammenzubringen. Schließlich wurde das El Gusto Orchestra neu gegründet und ein Musikalbum produziert, es folgten Tourneen in Europa und Amerika. Gleichzeitig produzierte sie aus den Geschichten der Musiker und den Auftritten des Orchesters den Dokumentarfilm „El Gusto“, der 2012 weltweit erfolgreich aufgeführt wurde und machte damit die Chaâbi-Musik und das Orchester bekannt. Auch in Rudolstadt spielten jüdische Musiker wie der Pianist Omri Mor, jüngere Orchestermusiker und die „alte Garde“ von El Gusto zusammen: bemerkenswert war natürlich das El-Gusto-Maskottchen mit der Mütze Mohamed Ferkioui am Akkordeon (der ist inzwischen über 90?), aber auch Liamine Haimoun (Mandola) und Rachid Berkani (Oud) waren noch gut drauf. Die Musik mit Piano, Akkordeon, Streichern, Mandolas, Oud, Kanun (Tischzither), Gitarre, Banjo, Bass, Percussion und Gesang hat sich sehr arabisch angehört und gehört nicht unbedingt zu meinen Favoriten.
Da haben mir Ganes (ganes-music.com | Ganes @ Youtube) schon besser gefallen (kein Wunder: junge Frauen statt alte Männer). Ganes (im ladinischen Märchen so’ne Art Quellnymphen, das können Feen aber auch Hexen sein) ist ursprünglich ein Gesangstrio der beiden Schwestern Elisabeth & Marlene Schuen und ihrer Cousine Maria Moling aus La Val/La Valle/Wengen in Südtirol + Begleitband. Und so singen & spielen sie auch: feenmärchenhafte Geschichtenfolkpopsongs auf Ladinisch (ihrer Heimatsprache). Ende 2017 hat Maria Moling die Band für ein eigenes Musikprojekt verlassen, dafür kam die Bassistin Natalie Plöger aus Leer in Ostfriesland dazu (also auch eine fast waschechte Wassernixe, jedenfalls ist die Nordsee nicht weit weg). Leider konnte Schwester Marlene in Rudolstadt nicht auftreten. Aber Schwester Elisabeth (die trotzdem zu zweit war, vielleicht im 7. Monat) hat als ausgebildete Opernsängerin die Heinepark-Konzertbühne auch so gerockt (oder sagt man gearied?), am eindrucksvollsten in ihrem Märchenlied von der Hexe. Das war nicht nur toll anzuhören, sondern auch schön anzusehn (unbedingt auch Natalie Plöger). Und sie hatten noch ein Ass im Ärmel: das Duett mit dem palästinensischen Musiker Aeham Ahmad (bekannt als der Pianist in den Trümmern von Jarmuk, ein im Syrienkrieg zerstörtes palästinensisches Stadtviertel von Damaskus | www.aeham-ahmad.com | Aeham Ahmad @ Youtube), der beim Rudolstadt-Festival eigentlich mit dem Edgar-Knecht-Trio aufgetreten ist (mit Aeham Ahmad ist Ganes aber auch früher schon mal in Bozen aufgetreten). Bei dieser Gelegenheit haben sie vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, die große Oper rausgelassen, aber es war ganz interessant.
Unser nächstes Ziel war dann wieder auf der Heidecksburg: Debademba (www.debademba.pro | Debademba @ Youtube), eine westafrikanische Band aus Paris (ja, das gibts). Der Gitarrist Abdoulaye Traoré kommt aus Burkina Faso, lernte von seiner Schwester Gitarre spielen und tingelte als Musiker in Westafrika rum. 2002 gründete er in Paris die Gruppe Debademba (Große Familie), die aber erst richtig erfolgreich wurde, als 2009 der Sänger Mohamed Diaby zur Band kam. Mohamed Diaby stammt aus einer malischen Griot-Familie (fahrende Sänger und Geschichtenerzähler) von der Elfenbeinküste und wurde 2007 bei einem Talentwettbewerb von Radio France International (RFI) entdeckt. Außerdem spielen noch der französische Jazzgitarrist Loic Rechard, Bisou Bass am Bass und William Ombe Monkama am Schlagzeug (beide aus Kamerun). Zusammen entwickelte sich Debademba zur angesagtesten westafrikanischen Band in Frankreich. Auf der Burgterrasse in Rudolstadt zündeten sie auch gleich eine Tanzparty. Den Gitarristen Abdoulaye Traoré fand ich sensationell, und zwar meistens dann, wenn der Mandinka-Blues (à la Desert Blues) nicht durch den Sänger übertönt wurde. Was beim Sänger Mohamed Diaby Ausstrahlung, Charisma und „sparsame Theatralik“ (Rudolstadt-Festival-Programmheft) genannt wird, fand ich als Show-Gehabe eher aufdringlich und ein bisschen überheblich. Insgesamt war Debademba aber hörenswert und mitreißend.
Beim Rückweg zum Heinepark ist uns noch etwas Unfassbares passiert: In der Stadtkirche war ein Konzert, man konnte einfach reingehen und es war noch Platz (sogar vor der ersten Sitzreihe, wo wir gern unmittelbar vor den Musikern auf dem Boden sitzen)! Ach so, es wurde Jazz gespielt: Eternal Voyage (www.markus-stockhausen.de | Eternal Voyage @ Youtube), ein Weltmusikprojekt von Markus Stockhausen (Jazz/Klassik-Komponist und -Trompeter aus Köln). Dafür vereinte er Musiker unterschiedlicher Herkunft. In Rudolstadt waren: (seine Frau) Tara Bouman (niederländische Klassik-Klarinettistin), Hindol Deb (indischer Sitar-Spieler), Alireza Mortazavi (Santur-Spieler aus dem Iran), Bodek Janke (Percussion, Polen/Deutschland aus Stuttgart), Florian Weber (Tasteninstrumente, Detmold) & Rabih Lahoud (libanesischer Sänger & Komponist aus Düsseldorf). Alle Musiker sind klassisch ausgebildete Meister ihrer Instrumente. Musikalisch war Eternal Voyage ursprünglich Weltmusik-Jazz-Kompositionen von Markus Stockhausen für ein Konzert on der Kölner Philharmonie 2008. Die Besetzung wechselte mit Zeit, jeder Musiker brachte seine eigenen Vorstellungen ein. Während der Vorstellung gab es neben strukturierten Ensemblestücken immer wieder Instrumental-Solos mit Improvisationsspielraum. Dafür, dass Jazz nicht unbedingt meine Musikding ist, fand ich Eternal Voyage durch die musikalischen Spitzenleistungen und die Spielfreude der Musiker ziemlich gut, selbst Rabi Lahoud, von dessen arabischer Wortakrobatik ich sonst nicht so begeistert bin (z.B. mit „Masaa“ beim Rudolstad-Festival 2016).
Nach einem weiteren Tag voller Musik (inzwischen wars Mitternacht geworden) haben wir die Odyssee in den Heinepark (Oddisee & Good Company, irgendwie Soul-Blues-Reggae-Rap aus New York) abgewählt. Stattdessen haben wir uns fast musikfreie Entspannung bei ein paar Gläsern Wein im Supturhof bei den Rotariern gegönnt. Als wir dann halb 2 durch den Heinepark gekommen sind, war da dieser Musiksog beim Kinderfest. Das waren aber keine Frühaufsteher-Kids, sondern DJ andi (from the leipzig tribe of peace) (andirietschel.wordpress.com | andi from the leipzig tribe of peace @ hearthis.at) mit Tribal-Beats-Dance-Trance an der Kulturinsel-Einsiedel-Bühne. DJ andi ist eigentlich Andie Rietschel, ein Weltenbummler, Friedensaktivist, Geschichtenerzähler und DJ aus Leipzig. Da war coole Musik, entspannte Stimmung, Tanz bis halb 4…