Rudolstadt-Festival 2017 1 2 3 4
Freitag, 07.07.2017 Sonne glüht – Saale blüht
Nix gegen Sommer, aber man muss es ja nicht übertreiben. Wir nutzten die Musikfreizeit für eine Wanderung auf die Debrahöhe, eine Gegend, in der wir bisher noch nicht waren. Von den Gartenanlagen am Viehberg und Schweinskopf (irgendwie tierisch, die Gegend) kann man die Heidecksburg mal von der Rückseite sehen. Im rettenden, schattigen Wald fanden wir noch ein verwunschenes Waldhäuschen, das Waldbad (aus Spiegel, Badkonsole und Seifenhalter) war leider nicht in Betrieb.
Unser erster Musikausflug am Freitag führte uns zu den Sommernachtspoeten mitten am Tag auf der Heidecksburg: ein Deutsch-Liedermacher-Projekt von Erik Manouz (www.manouz.de) mit Sarah Lesch (www.sarahlesch.de) & Cynthia Nickschas (www.cynthiaandfriends.de | Cynthia Nickschas + friends @ Facebook | Cynthia Nickschas + friends @ Youtube) + Begleitmusikband extra für das Rudolstadt Festival 2017. Sommernacht wär super gewesen, aber in der proppenvollen Burghofmittagshölle hatte es die Poesie ziemlich schwer. Wir haben sozusagen am Rande (also von den „billigen Plätzen“, die manchmal noch frei sind) den Auftritt von Cynthia Nickschas mitbekommen, eine Straßenmusik-Liedermacherin (Sängerin + Gitarre) aus Tuttlingen/Bonn. Im Unterschied zu der mir suspekten Achtsamkeits-Betroffenheits-Lyrik fand ich ihre Deutschansongs (nenn‘ ich’s mal) ganz cool, erfrischend direkt, druckvoll, energiegeladen und interessant, auch durch ihre Stimme zwischen rein & Rauch.
Bei den nächsten Schottinnen gings wirklich ziemlich sparsam zu: Mairearad & Anna (www.mairearadandanna.com | Maireadad & Anna @ Facebook | Mairearad & Anna @ Youtube): 2 Frauen, 2 Stimmen & jeweils 2 Instrumente, keine Band, keine Fisematenten, nur schottische Folkmusik gekonnt gespielt. Die zwei Multiinstrumentalistinnen stammen aus Musikerfamilien der schottischen Highlands und spielen seit mehr als 10 Jahren als Duo zusammen. Mairearad Green stammt aus dem Dorf Achiltibuie der abgelegenen nordwestschottischen Halbinsel Coigach. Sie ist eine (mehrfach) ausgezeichnete lyrische Akkordeon- und Dudelsackspielerin in verschiedenen Bands, sie spielt Piano, komponiert, lehrt, malt und veranstaltet seit 2012 das Summer Isles Festival in Achiltibuie. Ihre Sache ist traditionelle, meer- und landschaftsverwurzelte, lyrische schottische Folk-Musik. Anna Massie kommt aus Fortrose bei Inverness im Nordosten Schottlands. Sie ist eine der besten Gitarristinnen Schottlands, spielt auch Geige, Mandoline und Banjo, ist mit mehreren Gruppen unterwegs. Mit Präsenz und Dynamik begleitete sie die eher zurückhaltende Mairearad, machte flockige Ansagen. Zusammen legten sie einen freundlichen, lockeren, sympathischen, musikalisch munteren anspruchsvollen Auftritt auf der Schlosshofbühne der Heidecksburg hin.
Da wir inzwischen Dona Onete (die fast 80jährige brasilianische Kultsängerin) im Heinepark verpasst hatten, konnten wir zwanglos durch die Innenstadt schlendern und sind schließlich beim Neumarkt gelandet. Da gabs Flötentöne von Tuultenpesä/Vindarnas möte (Finnisch/Schwedisch für Windnest/Windtreffen, im Rudolstadt-Programm 2017 steht „Hexenbesen oder Donnerbüsche“, da haben sie ihnen aber einen ganz schönen Flötenbären aufgebunden) (Tuultenpesä/Vindarnas möte @ simonson.nu/… | Tuultenpesä/Vindarnas möte @ Facebook | Tuultenpesä/Vindarnas möte @ Youtube). Eigentlich sind die 7 Flötentöner ja zwei verschiedene Gruppen: Wind On Wind: 4 Flöt-Fininnen (Kristiina Ilmonen, Mimmi Laaksonen, Leena Laitinen & Kirsi Ojala) und 2 schwedische Zephyr-Windgötter (Göran Månsson & Jonas Simonson). Ich glaub, die kennen sich alle irgendwie von der Sibelius-Musikakademie in Helsinki, wo sie lernten oder lehrten. 2016 haben sie jedenfalls beschlossen, dass man auch zusammen flöten könnte und bauten ihr Windnest. Wenn man zuerst dachte, dass 6 Flöter auch ganz schön eintönig werden könnten (wie beim Musikschul-Jahreskonzert), hatte man sich geirrt. Einerseits haben sie etwa 70 Flöten im Gepäck, von 5-cm-Mini-Piccolo- bis 2-m-Subgroßbass-Blockflöte (da hat der Name Block-Flöte mal Sinn: eine Riesen-Sperrholzkiste mit Klappen). Andererseits spielen sie einen abwechslungsreichen, raffinierten Sound von nordisch-traditionell bis Minimal-Trance-Jazz, gerne hypnotische Flöten-Grundmuster, die im Sextett zu Klangteppichen gewebt werden. Sehr interessant…
Weil das isländisch-dänische Singer-Songwrighter-Paar Helgi Jónsson & Tina Dico (www.helgijonsson.com | Helgi Jónsson @ Facebook | Helgi Jónsson @ Youtube) in unseren Ohren schon wie Musik klang, haben wir uns doch mal wieder in die Wartegemeinschaft vor der Stadtkirche eingereiht. Und sind tatsächlich reingekommen, auf „unseren Platz an der Sonne“, also vor der ersten Sitzbank direkt vor den Musikern! Helgi Hrafn Jónsson ist ein klassischer und Jazz-Posaunist (u.A. bei Sigur Rós), inzwischen mehr Pianist, Sänger, Songschreiber und Komponist aus Reykjavík. Tina Dico (eigentlich Dickow, aber das macht sich vielleicht nicht so gut) ist eine bekannte dänische Pop-Rock-Singer-Songwrighterin und Gitarristin aus Aarhus. Haben sich bei einer Tournee kennengelernt und sind seit 2010 ein „Musiker-Traumpaar“, leben in Island. Beide machen aber auch noch ihr eigenes Musikding. Als Teil der Europatour 2017 haben sie in Rudolstadt Helgi Jónssons neues Album Vængjatak (so was wie „Flügelschlag/Flügel bekommen“) vorgestellt. Zur Tourband gehörten noch: die dänische Schlagzeugerin/Sängerin Marianne Lewandowski und der isländische Jazz-Rock-Gitarrist/Sänger Pétur Ben. Helgi Jónssons Kompositionen waren melodisch-lyrische, etwas melancholische, (für mich) oft zu harmlos-lieblich Nordic-Folkpop-Balladen. Manchmal haben Tina und Pétur auch ein bisschen erfrischend herzhafter in die Saiten gegriffen. Na ja, nicht schlecht, aber’n bisschen blutarm…
Da setzte das Trio López Petrakis Chemirani (bijanchemirani.com/… | Trio López Petrakis Chemirani @ Facebook | Trio López Petrakis Chemirani @ Youtube) deutlich mehr Energie frei. Das sind die Musiker: Efrén López: Komponist/Multiinstrumentalist aus València/Spanien, spielt alle möglichen Saiteninstrumente: Drehleier, Gitarren, Mandoline, Bouzouki, Swarmandal, Sitar, Oud, afghanische Rubab, türkische Bağlama… Und spielte schon alle mögliche Musik: Punk, Rock, Folk (gründete L’Ham de Foc), traditionelle, mittelalterliche Musik… katalanisch, griechisch, türkisch, indisch… (also irgendwie Alles von Allem). Stelios Petrakis (ein Schüler und Mitspieler von Ross Daly bei Labyrinth) ist Lyra- Und Lauten-Spieler, Komponist und Gitarren-/Lautenbauer aus Sitia/Kreta, Athen, Heraklion, der schon mit unzähligen Musikern zusammengespielt hat. Bijan Chemirani ist ein iranischer Zarb-Virtuose (Zarb: arabisch „Schlag“, eine Holz-Kelchtrommel der klassische iranischen Musik, auch Tombak genannt) aus Marseille/Frankreich. Neben vielen anderen Bandprojekten spielen sie als meisterhaftes Instrumentalisten-Trio zusammen: mediterrane traditionelle Musik (von spanisch über kretisch, griechisch und türkisch bis orientalisch, arabisch, iranisch) in eigenen Kompositionen. Das waren oft Stücke, die ganz harmlos, schleichend anfingen und sich dann im furiosen improvisierten Zusammenspiel berauschend-hypnotisch steigerten (das erinnerte mich an den großartigen, finsteren, kretischen Lyraspieler Psarantonis beim TFF 2004). Dieser kretisch-persische Ethno-Trance war irgendwie archaisch-einfach und gleichzeitig meditativ-vielschichtig, einer meiner Favoriten beim Rudolstadt-Festival 2017.
Zuletzt biss einem noch eine schwarze Mamba in die Ohren: La Mambanegra (mambanegralatin.com | La Mambanegra @ Facebook | La Mambanegra @ Youtube): eine Afro-Latino-Band aus Cali/Kolumbien. Die Metropole Cali in Westkolumbien ist eine der „afrikanischsten“ Städte Südamerikas und gilt als Welthauptstadt der Salsa. Die Band La Mambanegra um den Saxofonisten/Sänger/Frontmann/Bandgründer Jacobo Vélez („El callegüeso“) spielt „Break Salsa“, eine afrokaribisch-lateinamerikanische Power-Brass-Salsa-Party, aufgeladen mit HipHop, Funk, Reggae & Dance. Zur vielköpfigen Band gehörten in Rudolstadt noch: Carolina Mosquera Arrechea (Gesang & Tanz), Juan Carlos Arrecha (Congas), Daniel Gutierrez (Keyboard), Fabio „Mifa“ Lucumi (Posaune), Jeffry Obando (Bassgitarre), Sergio „Checho“ Orobio (Güiro/Ratschgurke, Gesang), Harold Orozco (Schlagzeug), Roger Torres (Trompete). Dabei ist vielleicht Carolina Mosquera Arrechea besonders hervorzuheben, eine (2017) 22 Jahre junge Sängerin, die in Cali musikalisch-kulturelle Sozialarbeit mit Kindern macht (Fundación Legado ancestral) und mit ihrer Folkband „Timbiáfrica“ Preisträgerin beim El Petronio Festival 2018 wurde (dazu kann ich das Porträt-Fotoprojekt von Jorge Idárraga zum Petronio-Festival 2015-18 empfehlen: www.elpais.com.co/…). Der Biss der schwarzen Mamba führt nach kurzer Zeit zu Rauschzuständen, Hyperaktivität, Bewegungsdrang, Strampeln, Hüpfen, Atemlosigkeit und Schweißausbrüchen… Bei Nichtbehandlung sind anhaltende Verwirrung und Erschöpfung nicht auszuschließen…