Südengland 2016 1 2 3 4 5 6 7 8
1 Dover & Hastings
2 Birling Gap & Seven Sisters
3 Nymans & Petworth House
4 Boomtown Fair
5 Stonehenge & Wells
6 Tintagel & Levant Mine
7 Lost Gardens Of Heligan
8 Lanhydrock House
In einer Winternacht 2015 hatte ich Bilder und Videos vom Boomtown-Musik-Festival gesehen und beschlossen, das mal zu erleben. Ganz billig ist der Spaß allerdings nicht: Eintrittskarten + Parkkarte + Duschkomfort-Karten machten zusammen rund 200 Kilo für 2, also 400 Pfund, damals vielleicht 550 €. Aus dieser Schnapsidee wurde dann unsere Fahrt nach Südengland.
Boomtown
Boomtown Fair (www | facebook | youtube) ist ein Lifestyle-Musik-Festival, das seit 2009 jährlich an 4 Tagen im August auf dem Gelände der Matterley-Farm etwa 5 km östlich von Winchester stattfindet. 2016 kamen etwa 60.000 Besucher. Eigentlich ist das Temple Valley der Matterley Farm eine ziemlich ruhige Gegend mit Wiesen, Weiden, Feldern und Waldstücken. Aber jedes Jahr wird dort auf einer Fläche von ca. 1,5 km im Durchmesser eine Festivalstadt auf- und danach restlos wieder abgebaut. Das sind nicht einfach nur paar Bühnen auf der grünen Wiese, sondern eine komplette Stadt mit mittlerweile 12 Stadtteilen (mit insgesamt etwa 50 Bühnen), von denen jeder mit einem eigenen Milieu für eine spezielle Musikrichtung steht. Die Stadtteile haben jeweils eine Haupt- und einige Nebenbühnen. Mit Gerüsten, Sperrholz, Stoff, Farbe und viel Liebe zum Detail wurden ganze Straßenzüge, Gassen und Plätze aufgebaut, in denen es Kneipen, Clubs, Friseur, Wahrsager, Straßentheater, Aktionen und so was gibt. Die Distrikte wurden teilweise durch schauspielende Volunteers bevölkert, die zum Milieu gehörten, die Leute unterhielten, ihre Scherze trieben, animierten oder für Fotos posierten. Ist manchmal blöd, wenn man die Sprache und den englischen Humor nicht so ganz versteht. Außerdem wurde Boomtown mit einer Stadtgeschichte versehen, die jedes Jahr als Kapitel fortgeschrieben wird und dem Ganzen einen thematischen Rahmen gibt. Das fing mit dem Forscher Nickolas Boom an, der in den Hügeln bei Winchester Gold entdeckte und dort einen kleinen Ort und Hafen gründete: Boomtown. Inzwischen ist im 9. Kapitel 2017 daraus eine Metropole im Zeichen des Bang Hai Towers geworden, die nach der Weltherrschaft greift…
Bei unserer Ankunft war es noch nicht ganz so weit, aber immerhin waren schon einige tausend Boomstädter vor uns unterwegs. Von Petworth nach Boomtown sind’s etwa 50 km. Man musste nur darauf achten, in den richtigen Stau zu einem der 3 großen Parkplätze zu geraten (den man sich mit der Parkplatzkarte ausgesucht hatte). Aber Leitsystem und Einweisung funktionierten reibungslos und so waren wir erstaunlich schnell schon nach 2 Stunden auf dem Nordparkplatz angekommen. Auf der eigentlichen Weide grasten schon viele tausend Autos. Wie alle anderen Besucher, haben wir unsere Überlebensmittel (hauptsächlich Getränke) für die nächsten 4 Tage zusammengekramt und zum Eingang geschleppt, getragen, geschleift, gerollt, gekarrt (je nach Ausstattung). Manche hatten professionelle Tieflader-Bollerwagen dabei, manche hatten Pulkas oder Rentnerkarren von ihrer Oma geklaut, manche haben regelrechte Depots angelegt (wie auf der Antarktisroute). Dummerweise hatte man keine Eintrittskarte, sondern nur eine Quittung, die man erst eintauschen musste. An diesen Ticket Exchanges ahnte man erst das ganze Drama, das auf einen zukommen würde: endlose Besucherschlangen, die sich mit Hab und Gut durch die Zugangslabyrinthe schleppten. Da hatte man viel Zeit, Leute kennenzulernen und das Programm zu studieren. Vor allem waren das Jugendliche so um die 20, gerne in Verkleidung oder wenigstens mit lustigen Hüten. Nach ’ner guten Stunde war man da und an der Einlasskontrolle mit Schnüffelhund durch und hatte das nächste Problem: man muss sich für einen der 9 Campingplätze (bei den verschiedenen Stadtteilen) entscheiden und dort einen halbwegs ebenen Zeltplatz finden, ruhig, nicht zu eng, nicht zu nah an der Bühne, nah genug am Klo und Wasser… Das hat in Old Town Camping auch irgendwie geklappt und um 6 konnten wir unser erstes Boombier trinken und die Stadt erkunden. Von den Vorstellungen eines Musikangebotes a la Rudolstadt-Festival mussten wir uns gleich verabschieden. Am ersten Abend waren die paar Angebote eher zur Aufwärmung. Während des Festivals gab es neben einigen Highlights viele regionale Acts von aufstrebenden Bands aus der englischen Provinz (was ja auch nicht verkehrt ist). Es kam in Boomtown nicht so sehr auf musikalische Erlebnisse an, sondern viel mehr auf Spaß, Unterhaltung, Auffallen und Selbstdarstellung des Publikums. Ver- oder Entkleidung, Schminken, Masken, Perücken, Accessoires, Schmuck, Piercings, Tattoos waren an der Tagesordnung. Die Fülle der Angebote, Eindrücke, Dekorationen und Typen überforderte einen erst mal, man kann es nur nach und nach erkunden.
Old Town
wo wir zuerst waren, hat das Milieu eines Fischerdorfes mit verwinkelten Gassen, Spelunken und Piraten abgekriegt. Die Bühne Jolly Dodger war eine etwas derangierte Piratenkogge, deren Maste und Takelage auch für die Trapezartistik und Feuershow des Invisible Circus (www | facebook) genutzt wurde, eine Straßentheater und -akrobatiktruppe aus Bristol. Musikalisch war Oldtown auf Folk, Balkan, Gypsy, Latin orientiert. Später waren wir hier noch bei Los de Abacho (www | facebook | youtube), einer anarchistischen Latin-Ska-Salsa-Punk-Rock-Band (die sich politisch zur zapatistischen Bewegung der Indiorechte bekennt) aus Mexiko Stadt und Veeblefetzer (www | facebook | youtube), Balkan-Brass’n’Roll-Gypsy-Party-Band aus Rom.
Town Centre
ist das städtische Zentrum des oberen Festivalbereiches (zusammen mit Old Town, Wild West & Mayfair Avenue). Hier gab’s Riesenrad und Kettenkarussel, jede Menge Futter- & Getränkebuden, die Boomtown Bobies mit smarten Polizistinnen, ein Arbeitsamt mit Anmeldeprozedur, ein militärisches Ausbildungslager des Genossen José und andere nette Freizeitangebote. Die Town-Centre-Bühne wurde musikalisch querbeet bespielt: Folk Rock, Reggae, Ska, Electronic, Dance, Fusion… Wir waren bei Asian Dub Foundation (www | facebook | youtube), britische Multi-Kulti-Band: Fusion von Punkrock, electronic Beats, Reggae, Bhangra und HipHop. Leftfield (www | facebook | youtube): Neil Barnes und Paul Delay waren britischen Electronic-Pioniere von 1989, die mit Progressive House sehr erfolgreich waren, 2010 hat Neil Barnes Leftfield reaktiviert. Parov Stellar (www | facebook | youtube), eigentlich Marcus Fuereder aus Linz, ist mit Electro-Sample-Swing der international erfolgreichste österreichische Musiker. Und natürlich waren wir beim revolutionären Finale: The revolution begins now! Aber eigentlich hat es damit Sonntag nacht um 12 geendet. Nur für uns nicht, den die jugendlichen Zeltnachbarn, die sonst immer bis in die frühen Morgenstunden beschäftigt waren, hatten nun plötzlich nichts mehr zu tun und haben deshalb eine Laberparty rund um unser Zelt abgehalten…
Wild West
ein Western-Dorf mit Saloons, Clubs, Cowboys Saloongirls, Sheriffs, Desperados, Goldsucher, Prediger. Die Bühne Old Mine war im Stil einer abgewrackten Grube: Folk Rock, World Fusion: Dhol Foundation (www | facebook | youtube), englisch-indische Worlmusic-Dhol-Drum-Band von Johnny Kalsi aus London, Afro Celt Sound System (www | facebook | youtube), keltische Fusion + Afrobeat + Johnny Kalsi & Dhol Foundation, legendäre Band bei Peter Gabriels Real World Label und WOMAD-Festivals, Nahko & Medicine for the People (www | facebook | youtube), Singer-Songwrighter-HipHop-Folk-Fusion-Pop-Rock einer international besetzten Band von Nahko Bear, Apache-Philipino-Puerto-Ricaner aus Los Angeles/Hawai/USA, mit global-sozial-ökologischer Peace-&-Love-Botschaft, Seth Lakeman (www | facebook | youtube), Folk-Singer-Songwrighter aus Dartmoor/Devon/Südengland mit aktuellen Themen, Imelda May (www | facebook | youtube), eigentlich Imelda Mary Higham aus Dublin/Irland, hat 2016 mit ihrer 5oer-Jahre-Locke auch den Rockabilly abgelegt und wandelte sich zur Rock’n’Pop-Sängerin.
Mayfair Avenue
war das Banken- und Geschäftsviertel von Boomtown mit Bank, Bars, Läden und so, musikmäßig vor allem Vintage, Electro-Swing, Dance-Party… Wir haben gelegentlich im Ballroom vorbeigeschaut, waren kurz bei Jenova Collective (facebook | youtube | soundcloud), Electro-Swing-Party-Band von DJ Kieran Leary & Charlie Oliver aus Sheffield/Leeds und Barbarella’s Bang Bang (www | facebook | youtube | soundcloud): internationale Estraden-Gypsy-Folk-Pop-Band aus London. Neben der Frontfrau Barbara Pugliese aus Ariccia/Rom/Italien spielen noch Musiker aus Lettland, Litauen und England. Außer Barbarella haben auch 2 Drag-Queens (bestellt oder spontan?) eine gute Figur gemacht.
Forest Parties
waren einige kleinere im Wald verstreute Bühnen. Psy Forest mit hübscher Schmetterlings-Dschungel-Deko stand für Psychedelic, Trance, Acid House: wir waren mal zwischendurch bei Riktam + Bansi (www | facebook | youtube), Progessive-House-Trance-Techno von Shajahan Matkin (Amsterdam) & Josef Quinteros (Barcelona) von der Party-Club-Insel Ibiza/Spanien. Ja, ganz nett, auf Dauer ziemlich eintönig.
Chinatown | Dstrkt 5 | Barrio Loco | Sector 6
bildeten zusammen Downtown, den unteren Festivalbereich im westlichen Talkessel: brachial, laut, bunt, wuselig, große Bühnen, Licht/Lasershows… Dort sind die Disco, Ska, Dance, Electronic, Drum’n’Bass, HipHop, House, Jungle, Garage, Techno und weiß-Gott-was-noch-für-Parties… Das sind die Acts, weshalb die meisten Jugendlichen kommen. Können sie gern machen, ohne mich. Vom Hippy Highway und Hilltop Boomtique hatte man eine tolle Aussicht auf die unteren Bühnen/Zelte wie Vamos, Bang Hai Palace, Robotica, Spaceport, Devils Kicks Dancehall und die Lasershows der Techno-Parties. Bemerkenswert war auch noch Elsie, ein überdimensionaler feuerspeiender Technodrachen aus allerlei Gestänge, Mechanik, Schläuchen und Hydraulik. Leider haben wir ihn nie in Aktion gesehen, weil wir später nicht mehr downtown waren.
Trenchtown
Lion’s-Den-Bühne im Stil eines Kmer-Tempels, wie ein Amphitheater an einem Talschluss gelegen: Roots Reggae, Ska, Dub, Dancehall… Eigentlich ganz gut, hat sich aber nicht oft ergeben. Wir waren bei Tanya Stephens (www | facebook (Fanseite) | youtube), Vivienne Tanya Stephenson aus Richmond, Jamaika. Kritisch motivierte Singer-Songwrighterin, eine der wenigen erfolgreichen Frauen im Reggae-Rock-Dancehall-Geschäft.
Whistlers Green
war das eher ruhige Künstler- und Ökoviertel auf dem Hilltop von Boomtown, zusammen mit Kidztown und dem Familiencamp etwas abgelegen vom Trubel. Hier waren die Mitmachangebote wie Yoga, Schnitzkurs, Aluphon, Puppenspiel, Diskussionen, Speakers Corner, Lagerfeuer, Kleinkünstler… versammelt. Whistlers Green wird durch die Wagen und Tipis der Schausteller, Zelt/Bühnen, Bars und Ruhezonen gebildet. Folk, Roots, Reggae, Funk & Soul: Windmill (Bühne): Harleighblu (www | facebook | youtube), draller englischer Soul aus Nottingham, Prince Fatty feat. Horseman (youtube), Mike Pelanconi & Winston Williams aus London mit HipHop-Raggae, Josienne Clarke & Ben Walker (www | facebook | youtube), Folk-Song-Duo aus Sussex/Evesham/London, BBC-Folk-Awards, für mich tolle Sängerin und Gitarero, aber vom showgeilen Publikum ignoriert, OKA (www | facebook | youtube), Electro-Sample-Traumzeit-Trance-Folk-Roots aus Australien, mit Didgeridoo find ich immer gut.
Floating Lotus (kleine Zeltbühne, meist regionale Folk-Bands): Forest of Fools (www | facebook | youtube), Drum’n’Brass-Accoustic-Dance-Folk-Band von Jez Gibbons (Milton Keynes), (damals noch Snufkin, jetzt) Young Waters (www | facebook | youtube), Accoustic-Roots-Folk-Song-Band aus Bristol, intensiv, natürlich, sympathisch, Sound of the Sirens (www | facebook | youtube), Frauen-Folk-Pop-Singer-Songwrighter-Duo aus Exeter, Abbe Martin & Hannah Wood.
Außerdem begann in Kidztown/Whistlers Green die Sunday Carnival Parade (youtube), ein extravaganter Karnevalsumzug mit Samba-Bands und fantastischen Kostümen.
Boomtique
war kein Veranstaltungsort, sondern „Komfortzonen“ auf dem Festivalgelände, die man gegen Extragebühr benutzen konnte (unbedingt empfehlenswert). Dort gab es saubere Klos, Duschen, Sauna, Warmbad, Massage, Imbiss und vor allem Ruhe. Sonst gibt es in Boomtown nämlich nur einfache Wasserzapfstellen, die mit der Zeit ziemlich verschlammen, ganz zu schweigen von der allmählichen Verwüstung der mit Sägespänen betriebenen Trockenklos. Überhaupt gab’s eine zunehmende Vermüllung des Festivalgeländes mit der Zeit – dirty old town. Das gibt’s ja bei jeder Großveranstaltung, aber bei englischen Jugendfestivals vielleicht noch mal ’n Zacken extremer. Aber die Organisatoren bemühen sich auch, solche Massenprobleme in den Griff zu kriegen und nachhaltige Lösungen zu finden, z.B. durch Mülltrennung, kompostierbare Verpackungen oder Ecobonds, 10-£-Pfand, den man durch Mülleinsammeln wieder auslösen kann.
Überhaupt ist das Boomtown Festival weltoffen, anarchistisch, friedlich, freundlich, liberal, sozial, wohltätig und ökologisch ausgerichtet. Es gibt Initiativen der regionalen Nachhaltigkeit, der Förderung regionaler Initiativen in Winchester, Förderung regionaler Bands durch Auftrittsmöglichkeiten, regionale Produkte und Veranstalter, Fairtrade, kinder- und familienfreundliche Angebote, Initiativen zur Flüchtlingsintegration, Diskussionsangebote, Workshops… Wenn es auch für mich nicht unbedingt die musikalischen Highlights gab, ist Boomtown doch ein wahnsinniges Erlebnis von Vielfalt, Ausgelassenheit und Feierwut. Und ziemlich anstrengend ist auch. Wir haben an den Festivaltagen längere Wegstrecken zurückgelegt, als bei unseren Wanderungen, und dazu kam noch hüpfen und tanzen. Nach 4 Tagen waren wir aber auch wieder froh, der Meute zu entkommen und unser eigenes Ding machen zu können. Wir wollten weiter westwärts zur schön ruhigen Küste Cornwalls.